Die Musikerin Katja Krüger aus Henstedt-Ulzburg hat eine besondere Fähigkeit: Sie hört Farben. Blau löst in ihrem Gehirn eine Quinte aus, Rot einen Oboenton. Sie ist Synästhetikerin

Die blaue Strähne in ihrem Haar beschert Katja Krüger Gefühle, die kaum jemand nachvollziehen kann. Die Farbe "Midnight Blue" löst schon beim morgendlichen Blick in den Spiegel eine Quinte in ihrem Gehirn aus. Das ist schön. So beginnt der Tag gut. Im Augenblick klingt der Ton etwas verwaschen, weil die Strähne schon etwas verblasst ist. "Muss ich dringend mal wieder erneuern", sagt Katja Krüger. Wenn sich ihr Mann die Strähne genauer ansieht, klingt bei ihm gar nichts. Jedenfalls kein musikalischer Ton im Kopf. Das ist nämlich der kleine Unterschied: Frau Krüger hört etwas, was Herr Krüger nicht hört. Gar nicht hören kann: Denn Frau Krüger gehört zu den Menschen, bei denen auf eine Primärwahrnehmung eine Sekundärwahrnehmung folgt. Soll heißen: Katja Krüger hört einen Ton, wenn sie eine Farbe sieht. Das ist nicht seltsam, sondern Synästhesie.

Die Zahnschmerzen sind dreckig, das Essen spitz

Das Wort stammt aus dem Griechischen, syn heißt "zusammen, ""aisthésis" empfinden. Synästhetiker sehen Farben, wenn sie Töne hören oder Buchstaben und Zahlen lesen. Ihre Zahnschmerzen sind dreckig, das Essen ist spitz. Ihre Wahrnehmung ist also zweidimensional. Zum Beispiel das rote Plakat von "Im weißen Rössl" im Musikzimmer von Katja Krüger: Der Besucher empfindet gar nichts und stellt höchstens fest, dass es etwas mickrig ausgefallen ist. Sie aber hört beim Betrachten klar und deutlich einen Oboenton. Und zwar ohne Vibrato. Meistens als g, manchmal auch als a. So in etwa jedenfalls. Für die 47 Jahre Henstedt-Ulzburgerin ist dieses Phänomen nicht belastend. Eher im Gegenteil: "Für mich ist das eine Bereicherung meines Lebens", sagt sie. Denn die Musik spielt in ihrem Leben eine große Rolle: Während ihres Studiums der Alten Musik hat sie zunächst Block- und Querflöte gespielt, ist dann zur Oboe übergegangen, dann zum Fagott, hat sich das Spielen des Kontrabasses selbst beigebracht, hat Waldhorn zu spielen gelernt. Auch das ist typisch für Synästhetiker: "Wir brauchen immer neue Herausforderungen."

Drei von 1000 Menschen sollen Synästhetiker sein

Heute leitet Katja Krüger einen Chor, spielt im Sinfonieorchester Norderstedt Fagott, im Hamburger Ärzteorchester Kontrabass, demnächst im Orchester 91 ebenfalls Kontrabass, spielt Bass in einer Klezmer/Blues-Tango-Gruppe und Fagott in einem Fagott-Quintett. Für die Musikschule Segeberg unterrichtet sie Oboe, Fagott und Querflöte in ihrem eigenen Musikzimmer im Pastorat der Ulzburger Kreuzkirche. Denn dort ist ihr Mann Mathias Pastor. Der spielt klassische Gitarre. Immerhin. Aber ganz ohne besondere Farbwahrnehmungen.

Drei von 1000 Menschen sollen Synästhetiker sein, 85 Prozent von ihnen sind Frauen, von denen wieder viele, wie Katja Krüger, künstlerisch tätig sind. Zwar soll schon der griechische Philosoph Aristoteles Synästhetiker gewesen sein, und der Begriff wurde in der Neurophysiologie erstmals 1866 geprägt, aber erst vor etwa 30 Jahren hat die Neurowissenschaft das Thema wieder aufgegriffen. 61 Varianten sind seitdem nachgewiesen.

Für Betroffene ist Synästhesie nichts Besonderes, sondern eine Selbstverständlichkeit. Kein Phänomen, sondern etwas Normales. Es stört nicht. Katja Krüger spricht deshalb auch von einer "Fähigkeit", wenn sie über ihre Wahrnehmungen erzählt.

In Deutschland wurde 1996 an der Medizinischen Hochschule Hannover eine Arbeitsgruppe gegründet, die mit der Universität Magdeburg und dem Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt/Main zusammenarbeitet. Was genau Synästhesie ist, bleibt allerdings unklar. Vergleiche der Gehirnaktivitäten von Synästhetikern und Nicht-Synästhetikern zeigen jedoch klare Unterschiede: Bei Synästhetikern ist das Gehirn anders verschaltet. Bei ihnen löst ein Sinnesreiz nicht nur eine, sondern mehrere Empfindungen aus. So sind bei Wahrnehmungen, die bei ihnen Synästhesien auslösen, andere und meistens mehr Gehirnbereiche aktiviert als bei Nicht-Synästhetikern.

Katja Krüger schreibt die gehörten Klänge gelegentlich auf, um diese Töne aus ihrem Gehirn zu verbannen und Platz für Neues zu schaffen. Und manchmal wird daraus sogar ein Musikstück. Erste Eindrücke dieser ungewöhnlichen Wahrnehmungen hatte sie während der Pubertät. "Oh, der Himmel klingt heute wieder schön", war damals ein Ausspruch von ihr. Die eher stille Katja merkte irgendwann, dass sie anders war als andere Jugendliche.

Katja Krüger empfindet die Fähigkeit als Bereicherung ihres Lebens

Während des Musikstudiums konnte sie erkennen, dass sie die Quinte immer schon beim Anblick der Farbe Blau gehört hatte. Aber erst 2002 ist ihr nach der Lektüre eines Artikels im "Spiegel" klar geworden, dass dieses Phänomen wissenschaftlich untersucht wird. An der Medizinischen Hochschule Hannover fand sie nicht nur ein offenes Ohr, sondern auch viele Gleichgesinnte, die sich einmal im Jahr im Synästhesie-Café treffen. Inzwischen gehört sie der Deutschen Synästhesie-Gesellschaft an, die sich kürzlich zu ihrer Jahreshauptversammlung bei ihr in Henstedt-Ulzburg traf.

Im Straßenverkehr können die Farbtöne manchmal lästig sein

Katja Krüger selbst empfindet die Fähigkeit als eine Bereicherung ihres Lebens, die eigene Familie nimmt das Phänomen als Selbstverständlichkeit auf. Da die Eigenschaft offenbar erblich ist, hat auch die 18-jährige Tochter Hjördis etwas davon abbekommen: Für sie haben Zahlen und Farben besondere Charaktereigenschaften. Die Farbe Gelb zum Beispiel ist eine "alte Ziege", die Eins ist freundlich, die Sieben hingegen böse. Diese besondere Fähigkeit "rettete" sie allerdings nicht vor dem ungeliebten Schulfach Mathematik. Hjördis will Gesang studieren. Ob die Vorfahren von Katja Krüger diese Fähigkeit ebenfalls besaßen, ist ihr nicht bekannt. Denn darüber wurde ja früher nicht gesprochen.

Über gelegentliche Belästigungen im Alltag sieht Katja Krüger hinweg, seitdem sie weiß, was mit ihr los ist: Als sie kürzlich an der Ampel intensiv auf die Rücklichter des vor ihr stehenden Autos blickte, hörte sie einen unangenehmen Ton, der sie vermuten ließ, ihr 15 Jahre altes Auto sei kaputt. War es natürlich nicht. Es war Synästhesie. Um an der Ampel nichts zum Klingen zu bringen, nimmt sie die drei Farben bewusst nur am Rande des Gesichtsfeldes wahr.