Experte Remo H. Largo gibt Tipps, wie Eltern und Kinder gemeinsam gut durch die Pubertät kommen. Die ersten zwölf Jahre sind entscheidend.

Hamburg. Remo H. Largo hat drei erwachsene Töchter. Und auch er, das gibt der Experte unumwunden zu, sei manchmal mit seinem Latein am Ende gewesen, als sie in der Pubertät waren. "Konflikte können Sie nicht vermeiden", sagt der Schweizer Professor für Kinderheilkunde, der zu den bekanntesten Autoren von Erziehungsratgebern zählt. "Aber je besser die Jahre davor verlaufen sind, umso besser können Eltern damit umgehen." Gestern Abend diskutierten Largo und die Koautorin seines neuen Buches, Monika Czernin, im Hamburger KörberForum mit dem Bildungsexperten Reinhard Kahl über die Pubertät. Das Abendblatt sprach mit Largo über diese besonderen Jahre .

Sein Buch "Babyjahre" zählt zu den Standardwerken in diesem Sachbuchsegment. In seinem neuen Werk "Jugendjahre. Kinder durch die Pubertät begleiten", hat sich der 68-Jährige, der 30 Jahre lang die Abteilung "Wachstum und Entwicklung" am Kinderspital Zürich leitete, mit Monika Czernin die Jahre des Heranwachsens vorgenommen. Die beiden schreiben darüber, wie es gelingen kann, im Dialog mit den eigenen pubertierenden Kindern zu bleiben. Sie versuchen zudem, Verständnis zu wecken für die schwierigen Jahre, in denen die Kinder sich langsam von ihren Eltern lösen.

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"Beginn und auch Verlauf der Pubertät sind individuell höchst unterschiedlich", sagt Remo Largo im Abendblatt-Gespräch Eltern hätten etwa zwölf Jahre Zeit, ihre Kinder zu erziehen. Und danach, ist dann alles zu spät? "Wie gesagt, sie können die Konflikte nicht vermeiden - es ist eher die Frage, wie Eltern damit umgehen", sagt der Autor. "Wenn man davon ausgeht, dass sich Konflikte vermeiden lassen, wenn man sich nur richtig verhält, macht man sich das Leben schwer".

Für die Mütter und Väter sei die Pubertät eine Art Abschied, und zwar ein Abschied, der ihnen aufgezwungen werde, weil er von den Jugendlichen ausgeht. Plötzlich sind die Eltern nämlich nicht mehr die wichtigsten Bezugspersonen der Kinder. "Dann müssen wir nicht nur umdenken, sondern auch umfühlen", sagt Largo. Aber vor allem die Jugendlichen müssten bei ihrer Ablösung eine Menge bewältigen: "Sie müssen emotionale Sicherheit außerhalb der Familie finden, sie müssen sich sozial integrieren, und sie müssen sich schulisch behaupten."

Zu all diesen Bereichen könnten die Eltern herzlich wenig beitragen. Largo: "Aber wenn es dann nicht klappt, dann fallen die Jugendlichen auf die Eltern zurück." Der Experte spricht deshalb von einer emotionalen Einbahnstraße in der Beziehung zwischen Eltern und ihren jugendlichen Kindern: "Wenn es den Kindern gut geht, dann brauchen sie die Eltern nicht. Wenn es ihnen schlecht geht, dann kommen sie an."

Für viele Eltern sei die Pubertät ihrer Kinder auch die Zeit, in der sie ihre Beziehung als Paar hinterfragten. "Häufig sind Väter und Mütter dann zwischen 40 und 50 Jahre alt. Sie haben also noch mindestens 30 Jahre vor sich, das ist sehr viel Zeit. Und viele stellen sich dann die Frage, was fangen wir mit dieser Zeit an", sagt Largo. Manche krempelten dann das ganze Leben um: "Bei Männern kann es sein, dass diese Lebensphase mit einer beruflichen Stagnation zusammenfällt. Bei Frauen ist es möglich, dass sie durch die Entlastung in der Familie beruflich mehr machen wollen. Wenn so eine Entwicklung bei einem Paar abläuft, kann das schon Probleme machen."

Insgesamt rät der Experte, den pubertierenden Kindern, die nach Freiheit streben, Verantwortung zu übertragen - beispielsweise im Umgang mit Alkohol und Kiffen. "Wenn man ehrlich ist, geht die elterliche Kontrolle komplett verloren. Man kann den Jugendlichen nichts verbieten, das ist naiv", so Remo H. Largo. Wichtig sei, den Kindern immer die eigene Meinung zu sagen, aber ihnen auch klarzumachen, dass sie für ihr Handeln die Verantwortung tragen.

Viele Eltern sorgen sich auch um den Umgang ihrer Kinder mit Computerspielen und sozialen Netzwerken. "In Bezug auf das Internet sind viele Jugendliche doch viel kompetenter als ihre Eltern", sagt Largo. "Eltern sollten aufklären im Hinblick auf die Gefahren, aber viel entscheidender ist, dass sie echte Beziehungen erleben und nicht nur virtuelle."

Eltern müssten dafür sorgen, dass Kinder schon von klein auf viel Kontakt zu anderen Kindern haben: "Kinder brauchen andere Kinder. Ab eineinhalb, zwei Jahren sollte jedes Kind drei Stunden am Tag mit fünf, sechs, sieben anderen Kindern spielen." Vor diesem Hintergrund sei die geplante sogenannte Herdprämie in Deutschland nicht hilfreich. Das Thema Bildung und Bildungsgerechtigkeit liegt Remo H. Largo sehr am Herzen. Er sei überzeugt, dass man das Bildungssystem tief greifend erneuern müsste: "Es wird sehr viel auswendig gelernt und über Noten geprüft, aber die Frage ist, wie werden die Kinder klüger?"

Kritisch betrachtet er auch die übersteigerten Erwartungen vieler Eltern, etwa was den Schulabschluss ihrer Söhne und Töchter betrifft. "Kinder sind nicht auf die Welt gekommen, um die Erwartungen ihrer Eltern zu erfüllen", sagt der Fachautor. Schätzungsweise 80 Prozent der Kinder seien Wunschkinder. "Dadurch steigen die Erwartungen der Eltern. Brutal gesagt, wenn wir schon ein Kind haben, dann muss es ein hochbegabtes sein. Demut ist dringend angebracht."

Für jene Eltern, deren Kinder an der Schwelle zur Pubertät stehen, hat Largo einen Trost parat. Diese Zeit könne auch recht problemlos verlaufen. "Und nach einigen Jahren kommen die Kinder zurück - wenn die Pubertät gemeinsam gut überstanden wurde."

"Jugendjahre. Kinder durch die Pubertät begleiten", Piper Verlag, 24,99 Euro

(abendblatt.de)