Die Menschen des 14. Jahrhunderts standen dem Schwarzen Tod hilflos gegenüber. Er veränderte den Glauben, das Denken und die Kunst.

Hamburg. Anfang Oktober des Jahres der Menschwerdung des Gottessohnes 1347 flohen zwölf Galeeren vor der göttlichen Rache, die unser Herr wegen ihrer Schandtaten nehmen wollte, und kamen in den Hafen von Messina", schildert der Franziskaner Michael von Piazza. "Sie trugen in ihren Gebeinen eingeschlossen eine furchtbare Krankheit: Wer nur mit ihnen sprach, wurde von tödlichem Leiden gepackt und war dem Tod unrettbar ausgeliefert."

Leichenschiffe, fast steuerlos, mit hängenden Ruderreihen. Bleiche Gestalten taumeln über das Deck, strecken flehend die Arme aus: Es ist der Tag, an dem der Schwarze Tod das christliche Abendland unter Sichel und Sense nimmt.

Die Pest des 14. Jahrhunderts ist die größte Katastrophe der Geschichte. Die Hälfte der Menschheit fällt dem Beulen bildenden Bakterium zum Opfer. Die entsetzliche Epidemie verändert Glauben, Denken und Empfinden der Menschen für immer. Das Immunsystem erliegt einem toxischen, das Kultursystem einem theologischen Schock: Vor das verdunkelte Gottesbild tritt aus den Flammen der Leichenbrände der allgegenwärtige Tod als der wahre Herrscher der Welt.

Die moderne Forschung liefert nüchterne Fakten: Übertragung durch Flöhe von Ratten auf Menschen, Ausbruch 1332 in China, Ausbreitung über Seewege und Karawanenstraßen. 1339 erreicht der Erreger Kirgisistan, 1345 mit einem Mongolenheer den Hafen Kaffa auf der Krim. Die Belagerer schleudern Pestopfer mit Katapulten in die Stadt. Flüchtende genuesische Schiffe tragen den Todeskeim 1347 nach Konstantinopel, Kairo und Europa. 1348 dringt die Seuche von Marseille durch das Rhonetal und von Venedig über die Alpen nach Norden.

Die englische Armee im Frankreich des Hundertjährigen Krieges schließt panisch Waffenstillstand, flüchtet auf die Insel und bringt so die Pest nach London. 1349 hält der Tod auch an Nord- und Ostseeküste furchtbare Ernte. In Lübeck sterben 90 000 Menschen, nur 10 000 überleben. In Holstein werden zwei Drittel, in Schleswig sogar vier Fünftel der Bevölkerung hinweggerafft. In Hamburg sterben 6000 von 12 000 Einwohnern, darunter 16 von 21 Ratsherren.

Jeder Dritte der 14 Millionen Deutschen und jeder Dritte der 75 Millionen Europäer fällt der Seuche zum Opfer. Italien verliert die Hälfte, Frankreich sogar zwei Drittel seiner Bevölkerung.

Das Entsetzen der Chronisten übertrifft selbst die Schrecken der Apokalypse. Böse Vorzeichen ängstigen die unwissende Welt. In Venedig läuten wie von Geisterhand die Glocken, dann stürzt ein Erdbeben Kirchen und Türme um. Heuschreckenschwärme verdunkeln die Sonne, Kometen sind "feurige Ruten Gottes". In Paris rollt eine flammende Kugel über den Nachthimmel. In Avignon starrt Papst Clemens VI. frühmorgens erschrocken auf eine Feuersäule über seinem Exil.

Aus abergläubischen Befürchtungen wird reales Entsetzen. Die Pest schlägt Arme und Reiche, Standespersonen und Bettler ohne Unterschied. In den Straßen raufen Hunde und Ratten um die unbestatteten Leichen.

Die Ärzte sind hilflos. "Man soll kein Geflügel essen, keine Wasservögel, kein Spanferkel, kein fettes Ochsenfleisch", rät ein Gutachten der Universität von Paris. "Gefährlich ist das Ausgehen zur Nachtzeit bis um drei Uhr morgens wegen des Taues. Man koche nichts mit Regenwasser. Auch der Umgang mit Frauen ist tödlich."

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Passanten hüllen sich in Mäntel und halten sich Gewürzbündel aus Ingwer, Muskat, Lavendel und Wacholderkraut vor die Nasen. Viele setzen auf die noch stärkeren Gerüche von Ziegenböcken im Schlafzimmer oder schlagen ihr Bett bei den Latrinen auf. Der Florentiner Philosoph Marcilio Ficino empfiehlt angenehmere Mittel: "In erster Linie darf der Mensch nicht an den Tod denken. Man begebe sich in eine schöne Landschaft, in wohlduftende Gärten. Äußerst herzstärkend ist die Betrachtung von Gold und Silber."

Boccaccio, der heitere Dichter des lebensfrohen Sittenbilds "Decamerone", versteckt sich in einem Gartenhäuschen und schreibt in seiner erschütternden Reportage "Die Pest in Florenz" über die Mitbürger: "Sie verbrachten ihre Zeit mit Gesang, Musik und mancherlei Kurzweil. Niemand erhielt zu ihnen Zutritt, und keine Todesnachricht durfte ihnen hinterbracht werden. Andere wieder pflegten jeglicher Begierde möglichst Genüge zu tun und über das, was kommen werde, zu lachen und zu spotten. Bei Tag und Nacht zogen sie, um ohne Maß zu trinken, bald in diese, bald in jene Schenke ..." Andere suchen Rettung in hysterischer Frömmigkeit. Asketische Prediger und Eremiten rufen die leidenden Menschen zu qualvollen Prozessionen auf. Nackte Flagellanten schlagen sich mit Geißeln so heftig ins Fleisch, dass die Stacheln oft erst beim zweiten Versuch wieder herausgezogen werden können. "Tretet herzu, wer büßen will, so fliehen wir der heißen Höll, Luzifer ist ein böser Gesell", rufen die blutigen Bruderschaften und ahnen nicht, dass sie auf ihren Umzügen die Seuche erst recht weiterverbreiten.

Der Papst haust in einem streng bewachten Zimmer zwischen zwei lodernden Kaminfeuern und hofft auf die schützende Wunderwirkung eines Smaragdrings. Sein Leibarzt verordnet einen Gürtel aus Löwenhaut. Priester segnen immer ein Dutzend Tote zugleich aus. Totengräber stapeln Tausende Leichen schichtweise in große Gruben. Bischöfe weihen die Wasser der Flüsse, bevor sie die Opfer hineinwerfen lassen.

Bis zur Großen Pest gibt es keine Kunst, keine Philosophie, keine Moral und auch keine Wissenschaft außerhalb des kirchlichen Kultursystems. Doch die Unaufhaltsamkeit der Pandemie erschüttert die Gewissheiten des Glaubens bis in die tiefsten seelischen Fundamente. Im christlichen Empfinden des Hochmittelalters ist der Tod das Glück verheißende Tor zu einem besseren Leben, die Menschen stellen ihn sich in der Gestalt eines Sendboten Gottes vor, der sie aus dem Jammertal der Welt ins Paradies hinüberführt. Nach den grausamen Erfahrungen der Pest aber malen ihn die Künstler als durch die Lüfte fliegendes Ungeheuer, das unerbittlich Menschenleben vernichtet, oder als stürmischen Reiter, der alles niedermacht.

Der Tod wird so ein neues Wesen: Eine Macht, die aus eigener Initiative handelt und der niemand widerstehen kann. Nach der Pest ist er für die meisten Menschen eine unpersönliche Kraft, weder wohl- noch übelwollend, unparteiisch und ohne ethische Funktion. Grausig anzuschauen, als zähne- und knochenklapperndes Skelett etwa im 1350 gemalten "Totentanz" der Lübecker Marienkirche.

"Im geheimsten Winkel der eigenen Überzeugungen", schreibt der Pariser Geschichtsprofessor Dr. Alberto Tenenti, "dachte der Mensch nunmehr an sich selbst als Mensch und nicht nur als Christ. Dies bildete zweifellos eine entscheidende Erfahrung, die das menschliche Wesen zutiefst berührte und im Herzen des Menschen ein Echo fand."

1453 verschwindet die Pest so plötzlich, wie sie gekommen ist. Wenig später veredelt Bocaccios Freund Francesco Petrarca das Thema vom Triumph des Todes und gibt ihm in unsterblichen Versen eine neue literarische Weihe: "Der Tod ist Ende dunkler Kerkerschranken / Adligen Seelen; Andern bringt er Bangen, / Die an dem Schlamme haften sonder Wanken", lässt er seine geliebte Laura sagen, die er an die Pest verlor. "Mein Tod, der so mit Schmerzen Dich umfangen, / Dich freuen würd' er, wenn du voll Behagen / Ein Tausendteil nur meiner Lust empfangen."