Daniel Shechtman erhielt den Chemie-Nobelpreis, weil er atomare Strukturen nachwies, die bis dato für unmöglich gehalten wurden.

Stockholm/Haifa. Am 8. April 1982 machte der israelische Wissenschaftler Prof. Dan Shechtman eine Entdeckung, die sein Leben und das wissenschaftliche Verständnis von Kristallstrukturen auf den Kopf stellte: In einem Aluminium-Mangan-Mix fand er geordnete Strukturen, bei denen ein Atom denselben Abstand zu zehn anderen hat, die es ringförmig umgeben. Die Beobachtung widersprach allen Lehrbüchern, aber sie stimmte. Gestern erhielt der 70-jährige Shechtman dafür den Nobelpreis der Chemie.

"Meistens zeichnen wir wissenschaftliche Erkenntnisse aus, für die jahrelang geforscht wurde. In diesem Jahr geht es um eine Entdeckung, die an einem einzigen Tag geschah", sagte Staffan Normark, Ständiger Nobelpreissekretär bei der Präsentation des Preisträgers, der die mit umgerechnet 1,1 Millionen Euro dotiere Auszeichnung allein zugesprochen bekam. Shechtman habe bei der Benachrichtigung erst überrascht und dann begeistert reagiert, so Normark. "Er sagte, er habe die Hoffnung, diesen Preis zu gewinnen, schon fast aufgegeben."

Über Jahre stieß der in Tel Aviv geborene Forscher auf viel Unverständnis. Er hatte eine Struktur gefunden, die er zunächst selbst für unmöglich hielt. Am Morgen des 8. Aprils wollte er einen Aluminium-Mangan-Mix, den er verschmolzen und dann schlagartig abgekühlt hatte, genauer inspizieren. Die Substanz sah merkwürdig aus, und er beschloss, unter dem Elektronenmikroskop ihre atomare Struktur zu betrachten. Was er sah, war wissenschaftliches Neuland. Die Zehnerstruktur passte nicht zu dem Dogma, dass Kristalle immer in ordentlichen Gittern angeordnet sind, sich die Muster ständig wiederholen. Sie können Dreiecke, Quadrate oder Rhomben bilden. Dann gibt es aber nur drei, vier oder sechs Atome, die im gleichen Abstand zum Zentrumsatom stehen - und nicht zehn. Die ungewöhnliche Form erhielt die wissenschaftliche Bezeichnung Quasikristalle.

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Shechtman arbeitete damals am National Institute of Standards and Technology (NIST) in Gaithersburg (US-Bundesstaat Maryland). Als er seinem Laborleiter von seiner Entdeckung erzählte, übergab dieser ihm ein Lehrbuch zur Kristallografie. Doch Shechtman traute seiner Beobachtung mehr als dem Lehrbuch. So wurde er gebeten, seine Forschungsgruppe zu verlassen.

"Er musste harte Jahre durchleben", sagte Shechtmans Ehefrau Zipi gestern dem israelischen Rundfunk. Ihr Mann habe zu jenen Professoren gehört, über die man sich auf Kongressen heimlich lustig gemacht habe. Einige Experten unterstützten ihn frühzeitig, darunter ein Kollege des Technion, des Israelischen Instituts für Technologie in Haifa, an dem er 1972 seinen Doktortitel erwarb und an dem der Vater von vier erwachsenen Kindern heute als Professor arbeitet. Zudem ließen sich ähnliche Strukturen mit mathematischen Modellen errechnen und fanden sich in arabischen Mosaiken, zum Beispiel in der Alhambra-Festung in Granada (Spanien). Eine erste wissenschaftliche Veröffentlichung war 1984 ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur Anerkennung.

"Es gibt heute Tausende von Wissenschaftlern, die auf dem Gebiet forschen, mit dem ich begonnen habe", sagte Shechtman gestern in Haifa. In Laboren sind Quasikristalle inzwischen hundertfach hergestellt worden. Im Sommer 2009 folgte der erste Fund in der Natur: Ein neues Mineral aus Aluminium, Kupfer und Eisen wies die spezielle Kristallstruktur auf. Es stammte aus dem ostrussischen Fluss Khatyrka.

Substanzen mit dieser Kristallstruktur sind sehr hart und zerbrechlich wie Glas. Sie sind schlechte Wärme- und Stromleiter und haben eine nicht haftende Oberfläche. Diese Eigenschaften machen Quasikristalle für verschiedene Anwendungen interessant. Sie finden sich in einem besonders haltbaren schwedischen Stahl, aus dem zum Beispiel Rasierklingen oder sehr dünne Nadeln für Augenoperationen hergestellt werden. Auch für Oberflächen von Bratpfannen, Komponenten von Leuchtdioden, Wärmeisolierung von Maschinen und thermoelektrischen Geräten, bei denen aus Abwärme Strom erzeugt wird, wird mit Quasikristallen experimentiert.

Shechtmans Entdeckung ist längst anerkannt und findet allmählich ihren Weg in die technische Umsetzung. "Das war ein Preis, der eigentlich schon vor einiger Zeit fällig gewesen wäre", sagte gestern Gerhard Ertl, Chemie-Nobelpreisträger von 2007, der Deutschen Presse-Agentur.

Ein anderer Nobelpreisträger, der zweifach ausgezeichnete Linus Pauling (Chemie 1954, Frieden 1962), war lange Zeit einer der größten Kritiker von Daniel Shechtman. "Das zeigt, dass selbst die größten Wissenschaftler nicht davor gefeit sind, in den herrschen Konventionen steckenzubleiben", betonte die Königliche Schwedische Akademie der Wissenschaften, die den Nobelpreis vergibt. Und ergänzte: "Den Mut zu haben, etabliertes Wissen in Frage zu stellen, mag einer der wichtigsten Charakterzüge eines Wissenschaftlers sein."