1990 bohrt der Konzern Mobil Oil vor Schottland nach Öl - und stößt auf Gas. Seit 20 Jahren strömt klimaschädliches Methan aus dem Krater.

Am Morgen des 21. November 1990 um 2.33 Uhr hat sich der Stahlbohrer der Stena Drilling Company bereits 478 Meter tief in das Gestein unter der Nordsee gefressen. Schon zwei Tage suchen die Ingenieure des amerikanischen Energiekonzerns Mobil Oil 120 Meilen nordöstlich der schottischen Küste nach Öl. Sie wissen, dass im Sektor 22/B-4 auch flache Gasvorkommen im Gestein existieren. Doch hier, an den Koordinaten 56° 49{minute} 12{inch} Nord, 2° 59{minute} 24{inch} Ost, hatten die seismischen Messungen keine Risiken angezeigt. Die Gefahr einer Gasexplosion schien für die Besatzung gering.

Bis 2.33 Uhr läuft in dieser Nacht für die 64 Arbeiter auf der Bohrinsel "High Seas Driller" alles nach Plan.

Schon bald sollen täglich mehrere Tausend Kubikmeter Öl durch die Rohre des "High Seas Driller" fließen. Doch in der Nacht vom 21. November stößt der Bohrer nicht auf Öl, sondern auf Gas. Wie beim Öffnen einer geschüttelten Seltersflasche schießt Methan durch das Bohrgestänge. Die Explosion reißt einen Krater am Meeresgrund mit 15 Meter Durchmesser. Gewaltige Gasblasen drängen in Richtung Plattform. Entzündet sich das Methan, steht die Bohrinsel in Flammen. Der Kapitän sieht die Gefahr des Blowouts - und reagiert sofort.

Die Plattform mit Bohrturm schwimmt auf Pontons im Meer. Ohne Schlepper lässt sie sich kaum steuern. Mithilfe der Anker will der Kapitän die Bohrinsel aus der Gefahrenzone manövrieren, wie an einem Seilzug. Das Wasser der Nordsee sprudelt aus dem Krater wie in einem riesigen Whirlpool. Im Umkreis von 300 Metern schlagen die Wellen weißen Schaum. Die Bohrinsel, 60 Meter lang und 80 Meter breit, steht mittendrin. Per Funkspruch alarmiert die Besatzung drei Schlepper im Hafen von Aberdeen, die "Ikaluk", die "North Challenger" und die "Maersk Server".

Der Crew gelingt es allein, die Bohrinsel 370 Meter vom Blowout entfernt in Sicherheit zu bringen. Fast eine halbe Stunde dauert das Manöver. Um 4.50 Uhr geht ein weiterer Notruf raus: Zwei Hubschrauber sollen die Bohrinsel evakuieren. 38 Arbeiter werden in den Stunden danach mit Seilen vom "High Seas Driller" gerettet und nach Aberdeen geflohen. Niemand sei verletzt, auch die Bohrinsel sei so gut wie unbeschädigt, sagt Phil Sand, Sprecher von Mobil Oil, am Tag nach dem Unfall. "Wir kennen die Größe des Gasvorkommens nicht. Sonst hätten wir dort auch sicher nicht die Bohrung begonnen. Im Prinzip können wir uns jetzt nur zurücklehnen, zuschauen und warten, bis die Gasquelle von allein versiegt." Doch die Quelle versiegt nicht. Nicht in der Woche danach, nicht im Jahr danach. Das klimaschädliche Methan sprudelt bis heute aus dem Krater.

Seit den 1960er-Jahren ist Öl aus der Nordsee für Konzerne wie British Petrol, Shell und Mobil Oil ein lukratives Geschäft. Lange gehörte die Nordsee zu den größten Fördergebieten der Offshore-Industrie. Doch in den vergangenen Jahren ist die Fördermenge deutlich gesunken. Viele Ölquellen sind erschöpft. Um an den Rohstoff zu gelangen, bohren die Unternehmen in immer größeren Tiefen, immer weiter von der Küste entfernt.

"Die Fische fühlen sich wohl", sagt Peter Linke. Der Forscher vom Leibniz-Institut für Meereswissenschaften sitzt in seinem Büro in Kiel. Auf dem Flachbildschirm seines Computers wirbeln Blasen aus dem dunklen Krater. Das Gas schießt mit Überdruck nach oben. Die Propeller des Tauchboots dröhnen auf den Aufnahmen. Seelachse wimmeln am Rand des Bohrlochs. Der Sog reißt Wasser mit Nahrung aus dem Meeresboden. Bakterien, Krebse, Muscheln und Blumentiere haben sich über Jahre an dem Krater in 98 Meter Tiefe angesiedelt. Hechte suchen hinter den Gassäulen Schutz vor Fischerbooten. An dem Blowout ist ein neues Biotop entstanden.

Im Jahr 2006 ist Linke in einem Forschungsboot zum Meeresgrund getaucht. Er filmte den Krater, die Methanblasen und die Fische. Linke war damals erstaunt, dass fast zwei Jahrzehnte nach dem Unfall auf der Bohrinsel noch immer Gas aus dem Gestein strömt. Niemand weiß bisher genau, wie viel Methan aus dem Krater austritt und wie viel davon bis an die Meeresoberfläche gelangt. Es gibt nur Schätzungen, und die beginnen bei 2000 Tonnen im Jahr. Es könnten aber auch eine lange Zeit bis zu 300 000 Tonnen jährlich gewesen sein - ein Ausstoß, so hoch wie der von zweieinhalb Millionen Kühen. Die schädliche Wirkung von Methan ist in der Atmosphäre knapp 25-mal so hoch wie beim Treibhausgas Kohlendioxid. Die Wärme der Sonne wird durch die Gase nicht mehr ausreichend ins All reflektiert. Die Erde erhitzt sich. Pole schmelzen.

Doch das Klima hat nach dem Unfall im November 1990 weder Mobil Oil noch die britische Regierung interessiert. Ein Jahr zuvor hatte Mobil Oil die Lizenz für die Bohrung im Sektor 22/B-4 von der britischen Regierung erworben. Zahlen musste der Energiekonzern für die Lizenz nichts. Mobil Oil sollte im Gegenzug seismische Messungen der Geologie unternehmen und neue Bohrfelder erschließen. An mehr als 300 Stellen bohren die Unternehmen in der Nordsee heute nach Öl und Gas. Meistens geht alles gut. Doch immer wieder kommt es zu Unfällen.

Von November 1990 bis 1998 ließ Mobil Oil die Gasquelle nach dem Blowout in Sektor 22/B-4 beobachten. Die britische Regierung sorgte sich vor allem um die Sicherheit für Schiffe. Die Koordinate war sogar als Gefahrenstelle in den Seekarten markiert. Doch acht Jahre nach dem Unfall stellten Mobil Oil und die Behörden die Beobachtungen ein. Es bestehe kein Risiko für Gesundheit, Umwelt oder Sicherheit, hieß es. Vom Risiko für das Klima sprechen damals erst wenige. Methan ist in Wasser kaum löslich, es ist farblos und riecht nicht. Unfälle wie der im November 1990 hinterlassen keine Bilder von riesigen Ölteppichen auf dem Meer oder ölverschmierten Möwen am Strand. Auch bei der Ölkatastrophe 2010 im Golf von Mexiko gab es neben der Ölpest einen enormen Ausstoß von Gas. Doch in den Zeitungen und Fernsehberichten sah man nur das Öl, immer und immer wieder. Das Gas bleibt der blinde Fleck der Katastrophe.

Gregor Rehder war als erster Forscher an dem blinden Fleck in der Nordsee. Die Markierung der Gefahrenstelle in den Seekarten der Nordsee war es, die den Wissenschaftler vom Leibniz-Institut für Ostseeforschung in Warnemünde während einer Forschungsreise 1994 auf der Nordsee aufmerken ließ. Rehder machte erste grobe Messungen der Gasblasen an der Wasseroberfläche. Seine damalige Schätzung: Ein Viertel aller Methan-Emissionen der Nordsee stammt aus dem Gebiet um das Bohrloch. Doch wer nun für die Folgen für das Klima haftet, ist unklar. "Es kann nicht sein, dass wir nur durch Zufall auf einen Blowout in der Nordsee stoßen", sagt Rehder. Wie Peter Linke aus Kiel fordert auch er weltweite Gesetze für die Folgen für Umwelt und Klima nach Unfällen auf Bohrinseln.

Bisher tauchten die Methan-Emissionen aus dem Bohrloch in der Nordsee in keiner nationalen Bilanz über den Ausstoß von Treibhausgasen auf. Lange Zeit hat die britische Regierung darauf verwiesen, dass nicht geklärt sei, ob die Emissionen überhaupt den natürlichen Ausstoß von Methan aus dem Meeresgrund übersteigen. Auch heute reagieren die Behörden zögerlich. Auf Nachfrage beim Ministerium für Energie und Klimawandel in London heißt es: "Wir glauben nicht, dass die Menge des Methans aus dem Bohrloch signifikant ist im Vergleich zum gesamten Ausstoß an Methan in Großbritannien."

Doch der Druck auf die britische Regierung nimmt zu. Der Klimawandel hat auch einen Wandel in der internationalen Politik gebracht. Emissionen von Schadstoffen sind längst eine neue weltweite Währung. Mit der Umsetzung des Protokolls von Kyoto müssen Unternehmen Zertifikate für jede Tonne Klimagas ersteigern. Derzeit steht der Kurs an der Klimabörse bei etwa mehr als zwölf Euro pro Tonne CO2. Seit 2008 gilt der Handel. Doch bisher haben die Staaten die Unternehmen großzügig mit Gratiszertifikaten ausgestattet. Das soll sich von 2013 an ändern.

Vor allem große Hersteller von Zement und Glas, aber auch Stahlfabriken sind zunehmend zum Kauf von Zertifikaten verpflichtet. Doch für das Gas, das bei der Ölförderung auf See in die Atmosphäre strömt, gibt es bisher keine Obergrenzen. Methan ist derzeit gar nicht im europäischen Emissionshandel erfasst. Vor allem einer kann das recht sein: der Ölfirma.

Der britische Staat jedoch steht vor einem Dilemma. Und für Hans-Jochen Luhmann vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie hat dieses Dilemma System: Die Staaten vergeben Explorationsrechte in ihren Hoheitsgewässern an die Ölkonzerne und erzielen daraus in der Regel Einnahmen von den Ölfirmen. Andererseits kontrolliert und dokumentiert die Regierung für die Weltgemeinschaft die nationalen Emissionen. Liegen die Bilanzen über den im Kyoto-Protokoll festgelegten Grenzen, muss der Staat bei anderen Ländern Zertifikate einkaufen. "Ein Dilemma, das den Willen zur treuen Handhabung deutlich verringert", sagt Hans-Jochen Luhmann. Und den Ölkonzernen eine fatale Freiheit lässt.

Doch damit will sich der Ökonom Luhmann nicht abfinden. Im Herbst 2010 informierte er das Klimasekretariat der Vereinten Nationen in Bonn über den Blowout in der Nordsee. Auch dem Sekretariat des Übereinkommens zum Schutz der Meeresumwelt des Nordost-Atlantiks (Ospar) schilderte Luhmann den Fall. Die internationale Organisation mit Sitz in London ist auch für den Schutz der Nordsee verantwortlich. Und auch die britischen Behörden reagieren. Der Blowout wurde 2010 erstmals in den britischen Klimaberichten an die Uno erwähnt. Der Unfall im Sektor 22/B-4 ist erfasst. 20 Jahre nach den Bohrungen findet er den Weg in die offiziellen Statistiken. Und damit auch das Staunen darüber, dass die Quelle noch sprudelt. Auch Mobil Oil, das seit 1999 ExxonMobil heißt, war überrascht über Peter Linkes Bilder vom Krater und lud den Forscher vom Leibniz-Institut in Kiel kurz nach seiner Forschungsreise 2006 in die Londoner Zentrale ein. Doch es passierte erst mal nichts. "Uns hat es damals sehr geärgert, dass ExxonMobil als Verantwortlicher für das Bohrloch nicht gleich zur Rechenschaft gezogen wurde", sagt Linke. 1995 gab das US-Unternehmen die Bohrlizenzen für den Sektor 22/B-4 an die britischen Regierungsbehörden zurück.

Doch die Bereitschaft zum Handeln ist gewachsen. Mitte September wird Linke mit einem internationalen Forscherteam erneut zum Bohrloch aufbrechen. Zwei Wochen lang untersucht die Gruppe von etwa 20 Wissenschaftlern und Technikern den Methan-Ausstoß. Sie messen die Geschwindigkeit, mit der die Blasen aus dem Krater aufsteigen, die Größe der Blasen und die Zusammensetzung der Gase. Bis Ende März 2012 verfolgen Messgeräte den genauen Ausstoß. Mit den Ergebnissen wollen Linke und die anderen Wissenschaftler neue Modelle für Notfallszenarien nach Unfällen auf Bohrinseln oder an Gaspipelines entwickeln. Hat die Mission Erfolg, könnte die Messtechnik weltweit beim Krisenmanagement nach Unfällen zum Einsatz kommen. Fünf Millionen Euro kostet die Untersuchung. Die Koordination übernimmt die britische Regierung.

Das Geld kommt von ExxonMobil. Man nehme den Vorfall ernst und wolle das Verhalten des Methans am Bohrloch besser verstehen, sagt ein Sprecher. Peter Linke ist froh, dass ExxonMobil endlich etwas gemeinsam mit der Regierung und den Forschern unternimmt. Hans-Jochen Luhmann aber sagt: "ExxonMobil investiert jetzt ein paar Millionen, um am Ende ein Ergebnis der Emissionsbilanz zu haben, das deutlich unter den bisherigen Schätzungen liegt." Für Luhmann ist das Projekt kalkulierte Vorsorge, falls der Konzern doch irgendwann haften muss.

Erst vor einigen Wochen hat ein Konsortium aus fünf Ölkonzernen beschlossen, fünf Milliarden Euro in neue Bohrinseln und Lagerplattformen in der Nordsee zu investieren. Noch bis ins Jahr 2035 wollen sie den teuren Rohstoff aus dem Gestein pumpen. Laut der britischen Zeitung "Guardian" belegen Dokumente der Ölkonzerne, dass es allein in den Jahren 2009 und 2010 mehr als 100 Unfälle bei Bohrungen in der Nordsee gegeben hat.