Forscher von der TU Harburg testen im Windkanal die Abfahrtspositionen der Ski-Nationalmannschaft der Paralympioniken.

Hamburg. Wer ganz nach oben will, der muss Gegenwind aushalten können, heißt es. Thomas Nolte will, er will gewinnen, und deshalb stemmt er sich schon seit fast einer Stunde in den kalten Luftstrom, der ihm mit bis zu 108 Kilometern je Stunde entgegenschlägt; seine Lippen zucken, sein goldenes Trikot flattert. Nolte ist seit seinem neunten Lebensjahr von der Hüfte abwärts gelähmt, seine Familie geriet damals in einen schweren Autounfall. Durch den Skisport fand er zu neuem Lebensmut - und der Einstellung, die ihn heute, mit 27, antreibt: dass er alles tun kann, wenn er sich nur anstrengt, dass er "körperlich eingeschränkt ist, aber nicht behindert".

Als Mitglied der deutschen Paralympics-Ski-Nationalmannschaft holte er bei der Weltmeisterschaft im italienischen Sestriere im Januar die Bronzemedaille in der Abfahrt; bei den Paralympischen Winterspielen 2010 in Vancouver (Kanada) kam er im Slalom auf den vierten Platz, wobei er den dritten nur um 41 Hundertstel verpasste. Wie schnell Nolte im Ziel ankommt, ist nicht nur eine Frage der Technik, sondern auch der Aerodynamik: Je weniger Widerstand er der Luft bietet, desto weniger Zeit verliert er.

Welche Haltung die beste ist, erfahren er und seine Team-Kollegen von Forschern der Technischen Universität Hamburg-Harburg. Die Ingenieure um Prof. Thomas Rung vom Institut für Fluiddynamik und Schiffstheorie betreiben unter der Erde einen 42 Meter langen Windkanal, der sich über zwei Stockwerke erstreckt. Ein Gebläse im ersten Stock treibt Luft ein Stockwerk höher in den Kanal, in dem sonst Schiffsmodelle ihre Windschlüpfrigkeit unter Beweis stellen.

Jetzt ist hier Noltes Sportgerät festgeschraubt. Es besteht aus einem Bob-ähnlichen Sitz aus Carbon, der auf einem Brett ruht, das für den Ski steht. Auf der Piste würde Nolte durch Gewichtsverlagerung steuern, zwei Krücken helfen ihm, sich abzustützen. Während nicht behinderte Skifahrer leicht ihre Windschnittigkeit verbessern können, indem sie etwa stärker in die Hocke gehen oder Oberkörper und Beine "zusammenklappen", kann Nolte dies durch seine Querschnittlähmung nicht; er bietet dem Gegenwind zwangsläufig mehr Angriffsfläche.

Für schnell fahrende Profis wie ihn ist das deshalb ein besonderes Problem, weil der Luftwiderstand des Körpers bei steigender Geschwindigkeit überproportional zunimmt, während etwa der Reibungswiderstand der Skier in gleichem Maße zunimmt wie die Geschwindigkeit. "Deshalb können schon kleine Veränderungen in der Haltung viel bewirken", sagt Prof. Rung. "Auf der Piste gibt es aber so viele Einflüsse, dass die Sportler kaum darauf achten können, wie der Luftwiderstand auf ihr Tempo wirkt. Hier im Windkanal sind sie von allen Störfaktoren isoliert."

Um die Wirkung verschiedener Haltungen zu testen, lässt der Forscher den Sportler Thomas Nolte bei Windgeschwindigkeiten von 36 bis 108 Kilometern je Stunde vier verschiedene Sitzpositionen einnehmen. Dabei wird die Kraft, die dabei von vorne auf Nolte wirkt, über das Podest, auf dem er sitzt, auf eine spezielle Waage unter dem Windkanal übertragen. Ihre Sensoren zeichnen drei Parameter auf: den Luftwiderstand, den Auftrieb der Ski und die Kippmomente, also Kräfte, die den Fahrer nach hinten oder nach vorne drehen können. Außerdem messen die Forscher per Kamera Noltes Silhouette. Aus all diesen Faktoren berechnen sie schließlich, wie Rung es nennt, die "aerodynamische Kennzahl" einer Haltung bei einer bestimmten Geschwindigkeit. "Diesen Wert gilt es zu optimieren." Nach der Auswertung erhalten die Sportler Fotos jeder Haltung bei den verschiedenen Geschwindigkeiten, zusammen mit den Messdaten und einer Kommentierung, welche Vor- oder Nachteile die Haltungen ergeben.

Für die Sportler ist die Prozedur im Windkanal ziemlich anstrengend, denn in den meisten Positionen stellen sie typische Szenarien bei der Schussfahrt nach: Das heißt, sie müssen sich möglichst weit nach vorne beugen. Zwar macht die Schussfahrt bei einem eineinhalbminütigen Rennen unter Umständen nur fünf Sekunden aus, doch in dieser kurzen Zeit verändern die Sportler ihre Haltung kaum, während sie sich sonst ständig bewegen. "Bei den Bewegungen lässt sich aerodynamisch nicht viel verbessern, bei der Schussfahrt dagegen schon", sagt Thomas Nolte.

Bisher hielten die Mitglieder des Nationalteams auf Wettkämpfen bei der Schussfahrt ihre Krückenskis wie Speere nach vorne. Die Messungen der Hamburger Forscher ergaben jedoch, dass es aerodynamisch erheblich günstiger ist, die Krücken neben den Füßen möglichst eng am Boden zu positionieren. "Zu wissen, dass ich durch eine veränderte Position schneller sein kann, spielt auch psychisch eine Rolle", sagt Nolte. "Ich gehe so selbstbewusster ins Rennen." Andere Teams beneideten die deutsche Mannschaft um die Erkenntnisse aus Harburg, so Nolte: "Wenn wir auf Wettkämpfen von den Versuchen im Windkanal erzählen, haben wir immer viele Zuhörer."

Im Dezember beginnt die nächste Weltcup-Saison, doch Noltes großes Ziel sind die Paralympischen Winterspiele 2014 im russischen Sotschi. Dort will er seine erste olympische Medaille gewinnen; vielleicht schafft er es sogar ganz nach oben und gewinnt Gold. Dann hätte sich der Gegenwind gelohnt.