Was ist gut für das Kind, was nicht? Die Flut der Ratgeber kann Eltern zur Verzweiflung führen. Ein Plädoyer für mehr Intuition statt Perfektionsstreben.

Zwölftausendsiebenhundert Kinder sind im vergangenen Jahr ihren Eltern vollständig oder teilweise weggenommen worden. In Deutschland. Insgesamt eine Steigerung von vier Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die in dieser Woche veröffentlichte Forsa-Untersuchung im Auftrag der DAK, bei der 100 Kinder- und Jugendärzte im Land ausführlich nach dem Wohl unserer Kinder befragt wurden, hat ergeben, dass es ihnen eher schlechter als noch im Jahr 2000 gehe. Wer diese Zahlen wahrnimmt, kann eigentlich gleich mit der Familienplanung einpacken. So viele Eltern, die nicht fähig sind, ihre Kinder gesund und glücklich zu machen?

Besonders psychische Probleme und Verhaltensauffälligkeiten hätten - gerade bei den Sechs- bis Achtjährigen - deutlich zugenommen. Übergewicht sei ein bedrohliches Thema (sagen 95 Prozent); und bei den Drei- bis Fünfjährigen werden motorische und sprachliche Defizite deutlich.

Aber was machen wir jetzt damit? Wir Mütter und Väter oder auch wir Eltern in spe. Einfach alle Ratgeberbücher dieser Welt unter das Kopfkissen legen? Sie vielleicht sogar lesen? Und sich dann danach verhalten? Kinderpsychologen unter Vertrag nehmen? Und wie gestalten wir das im Alltag? Besorgen wir uns einen Hauslehrer, belegen alle frühkindlichen Förderkurse, verbinden diese mit einem Sportprogramm für die Kleinen und in der tagesaktuellen Versuchsküche? Und trauen wir uns das alles überhaupt zu? Kinder kriegen und erziehen nach detailliertem Plan, ferngesteuert? Oder einfach doch: Kopf in den Sand, wird schon schiefgehen - schließlich sind wir ja auch irgendwie groß geworden?

Können wir es heutzutage überhaupt schaffen, unsere Kinder gesund und glücklich aufwachsen zu lassen - ohne dabei selbst zum abgekämpften Nervenbündel zu werden?

"Wir müssen wieder lernen, uns an den individuellen Fortschritten der Kinder zu freuen, und nicht mit der Lupe nach Defiziten suchen, die dann mit einer maßgeschneiderten Therapie ausgemerzt werden", sagt Dr. Stefan Renz, Vorsitzender des Landesverbandes Kinder- und Jugendärzte Hamburg. "Kinder lernen von Kindern, ein frühzeitiger Besuch einer guten Kita kann Gold wert sein! Leider ist immer noch der Gedanke weit verbreitet, dass man bloß keine Sekunde verpassen darf, in der das Kind etwas lernen könnte, weil es sonst einen essentiellen Entwicklungsschritt nicht machen kann. Ich wünsche mir, dass diese Helikopter-Eltern, die beständig über ihren einzigartigen Sprösslingen kreisen, das Urvertrauen erlangen, dass die Kinder aus sich heraus ihren Weg gehen."

Mütter und Väter brauchen starke Nerven, so viel steht fest; Kinder brauchen Kraft - und das nicht nur, weil sie vieles fordern und benötigen, sondern weil die Millionen von Gedanken und Sorgen, die man sich um sie macht, ebenfalls zehren. Das fängt schon an, lange bevor der Nachwuchs auf der Welt ist. Beim Gynäkologen. Da starren Augen gebannt auf Ultraschallbilder - auf denen sie nichts erkennen können -, weil sie erleichtert feststellen wollen, dass die Nackenfaltenmessung nichts Auffälliges ergibt. Da müssen Schwangere die Angst hinunterschlucken, wenn der Triple-Test, der auf Chromosomenveränderungen hinweisen kann, schlechte Blutwerte bezeugt. Da liegen Kinder anders, als man es von ihnen erwartet, und gar nicht so, wie man sie gebären kann.

Sowieso ist schon das Schwangersein ein gutes Training für die spätere Ratlosigkeit in der Welt der Regeln. Weil man eigentlich nichts mehr darf: nicht zu viel und nicht zu wenig bewegen, nicht tragen, nicht heben, nicht gestresst sein, keine Kopfschmerztablette, keinen schwarzen Tee, natürlich keine Cola und wirklich keinen Alkohol - nur in Russland kommen mehr alkoholgeschädigte Babys auf die Welt als in Deutschland. Am schlimmsten jedoch sind die Einschränkungen beim Essen. Nicht, weil es unzumutbar wäre, den Speiseplan auch einmal umzustellen, sondern weil jeder Verstoß gegen die Regel gleich Schlimmstes für das Ungeborene bedeuten kann - und wer will dieses Risiko eingehen? Also kein luftgetrockneter Schinken, keine Pasteten, kein Carpaccio. Keine Rohmilchprodukte. Keine Mayonnaise und Vorsicht bei Torten. Kein Sushi und keinen Räucherfisch. Also Hände weg von allem, aber das bitte ausgewogen.

Ist das Kind dann endlich da, hat man sich daran wenigstens schon gewöhnt, denn jetzt gibt's noch mehr Einschränkungen. Die Liste erscheint endlos, und selbst wer alles beherzigt, wird feststellen, dass sein Kind einen anderen Plan hat - und irgendwie vielleicht auch gar nicht glücklich wirkt dabei.

"Es ist nicht die Aufgabe der Eltern, ihre Kinder glücklich zu machen", sagt die Hamburger Diplom-Psychologin Katrin Jill Hagemeyer, die in ihrer "Agentur für dicke Bäuche" Eltern berät ( www.kittietoldmie.de ). Hagemeyer, die nach der Lehre des renommierten dänischen Familientherapeuten Jesper Juul arbeitet, sagt: "Eltern sind dazu da, Kinder auf ihrem Weg zu begleiten und ihnen die Fertigkeiten zu vermitteln, die sie brauchen, um sich in der Welt zurechtzufinden. Eine Gefahr, die das Projekt ,glückliches Kind' mit sich bringt, ist, dass das Kind nicht mehr die Möglichkeit hat, unbeschwert wirklich traurig zu sein. Alle Emotionen die wir Menschen mit auf die Welt bringen, sind wertvoll für unsere Persönlichkeit."

Die optimale Mutter, das geht aus einem Bericht eines teuren Forschungsprojekts Ende der 90er-Jahre hervor, ist mindestens 21 Jahre alt, Nichtraucherin, hat Abitur und stillt ihr Baby, das sie zum Schlafen - nicht allzu warm angezogen - immer auf den Rücken legt, und zwar ins separate Kinderbett, keinesfalls ins eigene. Im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung wurden damals 280 Säuglinge landesweit obduziert, die an plötzlichem Kindstod gestorben waren.

Die Ursachen für die häufigste aller Todesursachen bei Kindern im ersten Lebensjahr, bei der Kinder einfach aufgehört haben zu atmen, sind bis heute ungeklärt, was dazu führt, dass Eltern das Damoklesschwert über ihrer Familie schweben sehen. Was bleibt, ist Empirie. Ist die Erkenntnis, dass die Zahl der Todesfälle deutlich zurückgegangen ist, seit die Forschung und in der Folge die Kinderärzte zu einem bestimmten Umgang mit Säuglingen geraten haben.

Was also tun - sich nicht verrückt machen lassen und sich nicht an die Regeln halten? Die Antwort weiß der gesunde Menschenverstand: Empirie ist keine Meinung. Also: im Wesentlichen daran halten und trotzdem nicht verrückt werden. Das alles muss auch lebbar sein. Wie soll man es schließlich schaffen, sein Kind in einem 16 bis 18 Grad kühlen Zimmer schlafen zu lassen, wenn es draußen 28 Grad sind? Und wenn die Alleinerziehende ihr Baby mit ins große Bett legt, auf eine eigene Matratze und in einen Schlafsack gehüllt, fern von Decken und Kissen, aber nah der Mutter, weil stündlich stillen sonst über ihre Kräfte geht, dann ist das so. Das ist das Leben.

"Perfekte Eltern sind gruselig", sagt Katrin Hagemeyer. "Menschen, die immer funktionieren und keine Fehler machen, sind keine guten Vorbilder. Eltern sollen Fehler machen und dazu stehen. Und die Kinder teilhaben lassen an den Prozessen. Was macht Mama, wenn sie einen Fehler gemacht hat? Das beobachten zu können ist enorm viel wert. Fehler auch eingestehen können und sich entschuldigen lernen ist wichtig." Allerdings warnt sie auch ganz deutlich: "Wenn ich es als Eltern nicht schaffe, meinen Kindern gegenüber respektvoll zu bleiben, wenn ich sogar körperlich werde, indem ich sie schüttle oder ohrfeige, dann habe ich ein Problem und sollte mir Hilfe suchen."

Alles richtig machen, kann man das? Kann man das üben? So etwas wie einen Elterntest hält Stefan Renz für "unsinnig", "die Eltern sollten vielmehr ermuntert werden, mehr auf ihr Gefühl zu hören und weniger darauf, was nun in irgendeinem Forum oder Ratgeber als fundiertes Halbwissen verbreitet wird. So viel kann ich als ,alter' Kinderarzt bestätigen, der beste Leitfaden im Alltag ist das Gefühl der Mutter."

Etwas, das Eltern sofort lernen, ist, dass kein Kind dem anderen gleicht. Man muss herausfinden, ob das, was andere machen, wozu Freunde raten, auch auf das eigene Heim anwendbar ist. Die Situation ist einzigartig: Niemand anderer ist der Vater oder die Mutter dieses einen Kindes, niemand anderer ist in derselben Lage, niemand ist so wie man selbst.

Wenn man nach dem ersten Schockzustand "Hilfe, dann hängt jetzt alles nur von mir ab" wieder Blut durch seine Adern laufen lässt, ist diese Erkenntnis auch befreiend. Sie bedeutet: Es gibt nur einen Weg. Den, es so zu machen, wie man es eben kann. Und zu begreifen, dass nichts perfekt ist, nicht man selbst und auch nicht das Kind. Und dass es gut ist so. Das ist das Leben.

Remo H. Largo, der Schweizer Kinderfachmann, der seine Erkenntnisse als Wissenschaftler und Kinderarzt in ganz unaufgeregter Weise niederschreibt, hat einmal gesagt: "Das Gras wächst auch nicht schneller, wenn man daran zieht!" Es wächst, ohne äußeres Dazutun.

So ist es mit den Kindern. Man braucht eine gewisse Ruhe, eine neue Art von Geduld, ein Gottvertrauen vielleicht, um diese verwirrende, beglückende, schwerwiegende und immer wieder erheiternde Aufgabe, Mutter oder Vater zu sein, bewältigen zu können.

Noch wichtiger vielleicht: Man braucht einen Bauch, einen großen, mit viel Bauchgefühl darin, und den Mut, auf dieses zu hören - weil die eigene Intuition und der Instinkt, wenn man ihnen mit festen Schritten folgt, die Richtung vorgeben. Auch und gerade in schwierigen Situationen. Dazu gehört es auch, unsicher zu sein, gehört Verzweiflung. Solange das Handeln authentisch ist, das ist, was diese Eltern wirklich ausmacht, wird das Kind sich geborgen fühlen, wird Vertrauen haben - und auch immer wieder einmal glücklich sein.

Neben dem Bauch aber, auf den man sich unbedingt verlassen sollte, gibt es noch etwas, das es braucht, um dem Leben mit Kind gewachsen zu sein. Ein kleines bisschen Glück.