Plötzlich war er da. Ein einsamer Wolf, fernab vom Rudel, bei Maschen in der Nähe Hamburgs. Das ist unheimlich. Unvorhergesehen, plötzlich und Begegnung mit einer Art, die uns Menschen nur zu ähnlich ist

Wo Wölfe sind, ist Natur möglich. Da muss man in jedem Moment mit Schlimmem rechnen. Für Stadtbewohner wie uns mag dieser Gedanke auch etwas verwirrend Archaisches haben, wenn man Canis lupus ansonsten nur aus Filmen, Märchenbüchern, Romanen, Musikstücken oder, ganz und gar kinderzimmerkompatibel, in der knuffigen Stofftier-Variante kennt, die garantiert nicht beißt, sondern immer nur spielen will. Einem Wolf live, in Farbe und freier Wildbahn zu begegnen, wie es nun einem verdutzten Hobbyfotografen vor den Toren Hamburgs in Maschen passierte, ist deswegen auch ein verstörender Kulturschock ganz besonderer Art.

Wo Wölfe sind, kommt der zivilisationsumzingelte Zeitgenosse, dem wilde Tiere ansonsten nie ins Alltagsgehege geraten, ins grundsätzliche Nachdenken über das Kreatürliche an Gut und Böse. Man muss lange in "Brehms Tierleben" blättern, um ein Tier zu finden, dem ähnlich widersprüchliche Charaktereigenschaften zugesprochen werden; vielleicht auch, weil es in seiner vermeintlichen Widersprüchlichkeit so sehr dem Wesen des Menschen ähnelt. Man liebt eben doch nicht immer, was man kennt.

Wölfe sind Extremisten des Tierreichs, kalt lassen sie so schnell niemanden. Als Wildschwein-Steaks noch nicht gefahrlos in der Kühltruhe herumlagen, sondern sich mächtig wehrten oder gleich in die nächsten Büsche abhauten, war der Wolf auch ein cleverer Konkurrent im harten täglichen Überlebenskampf. So etwas konnte kein hungriger Mensch dauerhaft mögen und um sich haben, der das Morgen noch erleben wollte.

Seine Gegner erinnert der Wolf daran, dass man selbst in der durchtechnologisiertesten Gegenwart noch mit Wildnis und Instinkt konfrontiert werden kann. Als ob der Wolf etwas dafür könne, dass er als Wolf ist, wie er ist. Wolf gleich wild gleich böse, so einfach ist diese simple Rechung, an der Sigmund Freud seine Freude gehabt hätte. Der Wolf ist immer nur Täter, nie Opfer, er stört die sichere Ordnung, das Denken in Schubladen, das geordnete Dasein, in das er einbricht. Erst recht, wenn er nur zwei Beine hat und dennoch einen Schafspelz trägt, der dem Gegenüber Harmlosigkeit signalisiert und Beißhemmung.

Die Bewunderer der Wölfe lieben genau das an dem Vierbeiner. Sie bewundern das Einzelgängerische am Wolf genauso wie sein nach komplexen Regeln verlaufendes Rudelverhalten. Er kommt, geht, tut, lässt und frisst, was, wann und wen er will. Ist halt so. Das ist Leben, das ist Tod. Das ist von erhabener Konsequenz, die nach göttlichen Fingerzeigen für uns suchende Sterbliche bettelt. Wann also Friedrich Nietzsche zitieren, wenn nicht an dieser Stelle. Der Groß-Philosoph schrieb Wahrheiten in "Menschliches, Allzumenschliches", seinem "Buch für freie Geister"; dort formulierte er mit so zeitloser Treffsicherheit, als hätte er vor mehr als 130 Jahren schon von den akuten Machtrangeleien in der trudelnden FDP geahnt. "Fast jeder Politiker hat unter gewissen Umständen einmal einen ehrlichen Mann so nötig, dass er, gleich einem heißhungrigen Wolfe, in einen Schafstall bricht: nicht aber um den geraubten Widder zu fressen, sondern um sich hinter seinem wolligen Rücken zu verstecken." Das joviale Mienenspiel von Rainer Brüderle im Kreise seiner lieben liberalen Parteifreunde sieht nach der Lektüre dieses Satzes gleich ganz anders aus.

So undurchschaubar der Blick eines Wolfes für Unkundige auch sein mag, eines ist klar: Der wilde Urahn von Bello und Struppi ist seit Tausenden von Jahren Projektionsfläche für menschliche Urängste - und Sehnsüchte. Bei den Bibel-Autoren kam er traditionell schlecht weg; wo er war, war Gefahr für die Schafherde im Verzug, im realen wie im übertragenen Sinn. Bei Jesaja heißt es: "Wolf und Lamm weiden zusammen, der Löwe frisst Stroh wie das Rind und die Schlange nährt sich von Staub. Man begeht nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg, spricht der Herr." Leider nach wie vor nur ein frommer und theoretischer Wunsch, das alles.

Die alten Ägypter verehrten Oupouaout, einen Gott mit Wolfskopf, der die Seelen der Pharaonen auf verschlungenen nächtlichen Wegen durch die Labyrinthe des Jenseits geleitete und Wächter der Toten war. Am anderen Ende des Mittelmeers, bei den Griechen, waren Artemis, die Göttin der Jagd und des Waldes, sowie Apollo, der Gott der Künste, von einer Wölfin (und früheren Zeus-Geliebten) auf die Welt gebracht worden. Hades, der Gott der Unterwelt, trug einen Wolfsmantel. Rom, die Ewige Stadt, ist nicht an einem Tag erbaut worden, aber zumindest der Sage nach von den Wolfs-Zöglingen Romulus und Remus gegründet. Es war also nicht immer alles schlecht, was mit Wölfen zu tun hatte.

Doch ist ein düsterer Ruf erst etabliert, dann wildert es sich ganz ungeniert. Der rasante soziale Abstieg der Wölfe vollzog sich im Mittelalter, als die Kirche ihn als Allegorie des hinterhältig Bösen entdeckte und in Bild und Wort immer wieder anprangerte. Kein Wunder also, dass er im Laufe späterer Jahrhunderte als skrupellose und verschlagene Bestie durch etliche Märchen und Fabeln stromerte. Klar ist auch, dass sich der böse Wolf - dann in seiner Symbolfunktion als Verführer - ans knusprige, noch unschuldige Rotkäppchen ranmacht und nicht etwa an einen postpubertären jungen Herrn, der sich womöglich schon zu wehren wüsste. Eine alte französische Umschreibung für ein junges Mädchen, das zur Frau geworden ist, lautet: "Sie hat den Wolf gesehen." Casanova ist unser Bruder Isegrim also auch noch. Und bei Freud, der bei diesem Thema nie allzu weit entfernt ist, kann man dazu lesen: ",Homo homini lupus', der Mensch ist des Menschen Wolf, wer hat nach all den Erfahrungen des Lebens den Mut, diesen Satz zu bestreiten?" Manche Dinge ändern sich einfach nicht.

Das finsterste Kapitel seiner Kulturgeschichte erlebte der Wolf in den 1000 Jahren zwischen 1933 und 1945. Die Nazis wollten ihn mitsamt seiner Eigenschaften für sich zähmen, indem sie ihn zum Wappentier ihrer Wortschöpfungen machten: Hitler gab seinem Befehlsbunker in Ostpreußen den Namen "Wolfsschanze", U-Boot-Geschwader hießen "Wolfsrudel". Und der Führer selbst ließ sich genüsslich als Leit-"Wolf" vom willfährigen Wagner-Clan in Bayreuth als Teil des Rudels inszenieren. Die Konsequenz des sprichwörtlichen Heulens mit den Wölfen war nie perfider als in jenen Jahren.

Die haltlose Einsamkeit, die unruhige Suche nach Sicherheit, die Ungebundenheit, für die Wölfe stehen, wurden in allen Bereichen der Kultur dankbar als Inspiration genommen. Kinder etlicher Generationen sind erleichtert ins Konzertsaal-Gestühl zurückgesunken, sobald Prokofjews "Peter und der Wolf" mit einem märchenhaften Happy End aufwartet. Noch mal gut gegangen. War ja nur Spaß. Eine der eindrucksvollsten Szenen des Opern-Repertoires spielt, richtig, in einer Wolfsschlucht. Webers "Freischütz", die romantische deutsche Oper schlechthin, hat dort ihren gruseligen Höhepunkt.

Auch die Abenteuerliteratur wäre ohne Jack Londons Bücher um einige Prachtexemplare des Wolfs ärmer. Der kalifornische Schriftsteller setzte der unbändigen Freiheitsliebe seiner Nation ein Denkmal, indem er in "Ruf der Wildnis" den Hund Buck nach dem Tod seines Herrchens zum Wolfsrudel-Mitglied verwildern lässt. Das Glück der Erde ist nur outdoor zu haben, sagt London damit, und es bleibt nur bei den Tapferen und vor allem Ungebundenen.

Der literarische Kunstgriff ans Gemüt seines Publikums gelang London aber auch aus der entgegengesetzten Richtung, mit "Wolfsblut", der im Original noch packender "White Fang" heißt. Wolfsblut ist ein herzensguter Mischling, der sich domestizieren lässt und sich dem Menschlichen anpasst. Er macht Kompromisse, seine stolze Herkunft stets spürend. Auch das eine Einstellung, die Sehnsucht bei den Lesern wecken konnte und kann. Und ausgerechnet auf den Planken eines Robbenfängers begegnet man ein weiteres Mal: Nietzsche. Wolf Larsen, der brutale Kapitän und Titel-Held in Londons "Seewolf", ist Londons literarische Antwort auf Nietzsches Idee des Übermenschen.

Wer so anders ist, muss einfach Wolf heißen - oder, wie in Hermann Hesses "Steppenwolf", Harry Haller. Mit diesem Roman schrieb Hesse auf, was unzählige Heranwachsende fühlten, die das Buch seitdem verschlangen: Teil der Gesellschaft zu sein, es mal zu wollen, mal nicht. Zwei Seelen, ach, in einer Brust. Wer als Rocker so fühlt, dessen Band konnte in den Drogennebelschwaden der späten 60er-Jahre nicht nach einem Sperling benannt sein. Also schlug der Hesse-Fan Gabriel Mekler dem Sänger John Kay "Steppenwolf" statt "Sparrow" als neuen Gruppen-Namen vor. Das Debüt-Album hieß ebenfalls so, der erste Hit war, wie sollte es anders sein, "Born To Be Wild". Und der Rest wurde zunächst Rock- und wenig später Teil der Kino-Geschichte, als der Song im Kult-Film "Easy Rider" zur Hymne einer Generation wurde.

Für seinen Namen erhielt Kevin Costners größter Kino-Erfolg keinen Oscar, doch abgesehen davon war das 1990 gedrehte Western-Epos "Der mit dem Wolf tanzt" in so ziemlich jeder Kategorie nominiert - am Ende blieben ihm sieben. Eine Beziehung ganz anderer Art zu Wölfen baute die französische Pianistin Hélène Grimaud auf. Sie begegnete zufällig einer Wölfin, die ein Bekannter hielt, und spürte sofort den "Ruf einer unbekannten und ursprünglichen Kraft". Bei einem Schaf, dem klassischen Wolfsfutter, wäre ihr das garantiert nicht passiert.