Internationales Waldjahr 2011: Forschungsflächen, sogenannte Naturwaldreservate, sollen sich ungestört entwickeln können.

Hamburg/Göttingen. Ein Wald wie im Märchen: Abgestorbene Baumriesen liegen am Boden, bewachsen mit Farnen und einem dicken Moospelz. Aus dem morschen Holz sprießen Jungbäume heraus, der Riesen Enkel- und Urenkelgenerationen. In der Waldgemeinschaft leben Methusalems: Von Pilzen erobert und mit Spechthöhlen bestückt bilden mehr als 100 Jahre alte Bäume das ökologische Rückgrat des Waldes. Nur in Nationalparks und sogenannten Naturwaldreservaten findet man im dicht besiedelten Deutschland solch urwaldähnliche Ökosysteme. Doch ihr Anteil am deutschen Wald soll wachsen.

"Entdecken Sie unser Waldkulturerbe" lautet das Motto des Bundeslandwirtschaftsministeriums zum Internationalen Waldjahr 2011. Am Montag starten Bundespräsident Christian Wulff, Agrar-Ministerin Ilse Aigner (CSU) und der ehemalige Umweltchef der Vereinten Nationen, Klaus Töpfer, den nationalen Teil des internationalen Waldjahres. Der Begriff Waldkulturerbe und eben nicht Waldnaturerbe ist offensichtlich mit Bedacht gewählt: "Echten Urwald, dem noch nie Bäume entnommen wurden, gibt es in Deutschland nicht mehr. Höchstens Flächen, die nicht mehr genutzt werden und die sich allmählich dem Bild des Urwalds annähern", sagt Sabine Kröner-Butz, Sprecherin der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald. Am weitesten sei der Bayerische Wald, in dem seit mehr als 30 Jahren nicht mehr eingeschlagen werde. "Sonst gibt es noch einzelne ungenutzte Forschungsflächen."

Diese Forschungsflächen, die Naturwaldreservate, sollen sich zu "Urwäldern von morgen" entwickeln. Forstliche Eingriffe sind tabu; vereinzelte Ausnahmen bilden die Wegesicherung und die Waldbrandbekämpfung. Auch menschliche Unterstützung auf dem Weg zum Urwald wie das Pflanzen von Buchen - die einstmals dominierende Baumart - ist nicht erlaubt. "Auf einigen Flächen in Nationalparks, etwa im Harz, wurde dies gemacht, quasi als Wiedergutmachung der menschlichen Eingriffe", sagt Dr. Peter Meyer von der Nordwestdeutschen Forstlichen Versuchsanstalt in Göttingen. "Aber in den Naturwaldreservaten gibt es keinerlei Pflanz- oder Pflegemaßnahmen, denn wir wollen ja gerade beobachten, wie sich ein Wald entwickelt, der sich selbst überlassen ist."

Der Anteil der Forschungsreservate am deutschen Wald liege bei 0,3 Prozent, sagt Meyer. Er ist Sprecher der Projektgruppe Naturwälder der Arbeitsgemeinschaft Forsteinrichtung, die die Projekte der Bundesländer bündelt. Auf bundesweit 719 Flächen mit insgesamt 31 666 Hektar (ha) Fläche herrscht Wildwuchs. Den größten Flächenanteil hat Bayern (7029 ha), gefolgt von Baden-Württemberg (6693 ha) und Niedersachsen (4469 ha).

Auch in Hamburg gibt es vier Waldreservate: in Eißendorf, Hausbruch, Wohldorf-Ohlstedt und im Duvenstedter Brook. Sie bedecken 37 Hektar Stadtfläche, keines der Gebiete hat die angestrebte Mindestgröße von 20 Hektar. Meyer schätzt die Hamburger Bemühungen. Doch generell sei die Mindestgröße wichtig, um auch größeren Waldvogelarten attraktive Lebensräume zu bieten und den Naturwald in allen Stadien beobachten zu können. Meyer: "Gerade die Methusalembäume sind wertvolle Lebensräume. Sie machen Naturwaldreservate inmitten von forstlich genutzten Waldgebieten zu Baumhöhlenzentren für Schwarzspecht, Raufußkauz und Hohltaube, Fledermäuse und Siebenschläfer."

Die Waldreservate sollten langfristig geschützt sein, zu ihrem Standort passen oder für die umliegenden Wälder repräsentativ sein. Zudem sollte dort störungsfrei geforscht werden können. Das heißt aber nicht, dass Menschen keinen Zutritt haben. "Tourismus und Umweltbildung schaden dem Naturwald nicht", sagt Meyer. Auch Jäger sind ihm willkommen. "Wir wollen eine schonende Jagd, denn die Reservate dürfen keine Ruhezonen für das Wild sein. Dann wäre der natürliche Aufwuchs von Jungbäumen gefährdet."

Idealerweise sollten die angrenzenden Baumbestände naturnah genutzt werden, so Meyer. In vielen Landeswaldgesetzen gebe es dazu Vorgaben, und auch die Öko-Label FSC und PEFC leisteten ihren Beitrag, betont der Forstexperte. "Die Zertifizierung hat einen Diskussions- und Prüfungsprozess in Gang gesetzt, der dem Qualitätsmanagement in den Wäldern zugutekam." Viele kommunale Wälder seien inzwischen FSC-zertifiziert, ein überwiegender Teil des großen Restes trägt das weniger strenge PEFC-Siegel.

In den kommenden Jahren soll der Wildwuchs deutlich zunehmen: Die Nationale Strategie zur Biologischen Vielfalt von 2007 sieht vor, dass bis zum Jahr 2020 fünf Prozent der deutschen Wälder aus der Nutzung herausgenommen sind - Urwald in Deutschland soll eine zweite Chance erhalten.