Nach 25 Jahren sind vor allem Wildfleisch und Pilze in Deutschland radioaktiv belastet. Hauptsächlich Cäsium-137 ist hierzulande von Bedeutung.

Hamburg. Der atomare GAU in Japan ruft Erinnerungen an die Katastrophe von Tschernobyl im April 1986 wach: Die Explosion in dem Reaktor des ukrainischen Atomkraftwerks schleuderte zehn Tage lang radioaktive Partikel in die Atmosphäre, die in Wolken gebunden bis nach Mittel- und Nordeuropa zogen und mit dem Regen auch in Deutschland niedergingen - auf Feldern und Wäldern, in Flüssen und Seen, in Nord- und Ostsee, wobei der Süden Deutschlands stärker betroffen war als der Norden. Was ist 25 Jahre später von der Strahlung geblieben?

Schon kurz nach der Katastrophe verabschiedete der Bundestag 1986 das Strahlenvorsorgegesetz, das vorschreibt, die Umweltradioaktivität in Deutschland zu überwachen. Nun ziehen zwei Forscherteams eine Bilanz: Immer noch sei radioaktive Strahlung infolge von Tschernobyl hierzulande deutlich nachweisbar. Zugleich geben sie aber Entwarnung: Gesundheitliche Folgen für die Bevölkerung seien sehr unwahrscheinlich. Die Berichte erscheinen nächste Woche in der neuen Ausgabe des Magazins "ForschungsReport", das vom Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz veröffentlicht wird.

Für die radioaktive Umweltbelastung hierzulande durch Tschernobyl ist hauptsächlich Cäsium-137 von Bedeutung. Der Grund: Es dauert sehr lange - 30 Jahre -, bis seine Atome zur Hälfte zerfallen (Halbwertszeit). Andere aus Tschernobyl stammende Radionuklide zerfallen viel schneller: Cäsium-134 hat eine Halbwertszeit von zwei Jahren, Iodine-131 von acht Tagen. Deshalb sind beide heute nicht mehr nachweisbar.

Ganz anders Cäsium-137, dessen Auswirkungen auf Fische in der Nord- und Ostsee Ulrich Rieth und Günter Kanisch vom Institut für Fischereiökologie in Hamburg beschreiben. Ihre Analyse zeigt: In der Nordsee war der Cäsium-137-Eintrag durch Tschernobyl schon nach wenigen Jahren verschwunden, was daran liegt, dass das gesamte Nordseewasser durch Strömungen regelmäßig ausgetauscht wird. Dennoch ist die Nordsee heute keineswegs strahlungsfrei. Heringe und Sprotten sind mit bis zu einem Becquerel (Bq) Cäsium-137 pro Kilogramm belastet, das aus den beiden europäischen Wiederaufbereitungsanlagen in Sellafield (Irische See) und La Hague (Ärmelkanal) stammt. Darüber hinaus ist die Nordsee auch erheblich mit natürlichen radioaktiven Stoffen wie Radium-226 und Polonium-210 belastet, die den Forschern zufolge bei der Öl- und Gasförderung im Meer entstehen.

Im Gegensatz zur Nordsee sind die Hinterlassenschaften von Tschernobyl in der Ostsee noch deutlich nachweisbar. Zwar ist die Belastung von Fischen wie Dorsch, Scholle und Flunder mit Cäsium-137 seit 1986 stark zurückgegangen, allerdings seit Mitte der 1990-Jahre langsamer, weil offenbar Cäsium-137 aus kontaminierten Landböden nahe der Ostsee ins Meer gelangt ist. Insgesamt sind Fische in der Ostsee bis zu zehnmal stärker kontaminiert als in der Nordsee; die Belastung mit Cäsium-137 lag bis 2009 in den meisten Teilen der Nordsee zwischen drei und zehn Bq pro Kilogramm Fischfleisch.

Ein Grund zur Sorge? Nein, sagt Ulrich Rieth, einer der beiden Autoren vom Institut für Fischereiökologie. Die Kontamination der Fische sei für den Menschen unbedenklich: "Wir können mit gutem Gewissen sagen, das man Fische aus der Nord- und Ostsee, aber auch aus dem Nord-Ost-Atlantik gefahrlos verzehren kann." Der jährliche Verzehr von Ostseefisch und Fisch insgesamt trage weniger als ein Zweihundertstel zur jährlichen Strahlungsbelastung des Menschen bei.

Wie steht es um Nahrungsmittel aus der Landwirtschaft? Auch nach 25 Jahren sei immer noch das meiste Cäsium-137 aus Tschernobyl in deutschen Äckern vorhanden, schreiben David Tait und Nils Roos vom Institut für Sicherheit und Qualität bei Milch und Fisch in Kiel, das zum Max-Rubner-Institut gehört. Zwar befinde sich das Radionuklid überwiegend in den oberen Bodenschichten, in denen Kartoffeln oder Blattgemüse wüchsen, dennoch seien die Kontaminationswerte für Cäsium-137 in landwirtschaftlichen Nahrungsmitteln in ganz Deutschland "äußerst gering", so die Forscher.

Der Grund für diesen scheinbar widersprüchlichen Befund: "Pflanzen nehmen Cäsium in erster Linie über die Wurzeln auf. In tonreichen Böden und in Böden mit einem pH-Wert im neutralen bis schwach alkalischen Bereich, wie sie in der Landwirtschaft häufig sind, bindet sich Cäsium stark an Bodenpartikel. Es ist dann zwar noch vorhanden, kann aber von den Wurzeln der meisten Pflanzen nicht mehr aufgenommen werden." 2008 getestete Nutzpflanzen waren weniger belastet als Fisch: Kartoffeln enthielten maximal 0,43 Bq pro Kilogramm, Blattgemüse aus Freilandanbau maximal 0,68 Bq. Die Beschaffenheit der Böden sorgt den Forschern zufolge auch dafür, dass über Futtermittel nur sehr wenig Cäsium-137 in Milch gelange: Proben enthielten maximal 2,5 Bq pro Liter.

Sehr viel stärker kontaminiert seien dagegen Pilze und Wildtiere aus deutschen Wäldern, schreiben die Forscher. Die obersten Schichten von Waldböden bestehen aus Blättern, Nadeln und Humus, die ein vergleichsweise saures Milieu bildeten, in dem Cäsium-137 schnell von Pflanzen und Pilzen aufgenommen werden könne. Durch herabfallende Blätter und Nadeln werde das Radionuklid diesem Kreislauf immer wieder zugeführt und wandere nicht in tiefere Bodenschichten, wo es durch Ton gebunden werden könnte.

Entsprechend hoch fallen die Cäsium-137-Werte bei wild wachsenden Pilzen aus, insbesondere in Süddeutschland: Mehr als 1000 Bq Cäsium-137 pro Kilogramm wurden dort in Maronenröhrlingen und Sammelstoppelpilzen gemessen, Steinpilze und Pfifferlinge enthielten mehr als 100 Bq. Belastet ist auch Wildbret: Hirschfleisch enthielt maximal 102 Bq, Rehfleisch 212 Bq.

Mit Abstand am stärksten strahlten Wildschweine aus dem Bayerischen Wald. Ihr Fleisch enthielt 2008 bis zu 5106 Bq pro Kilogramm. Der Grund: Sie ernähren sich bevorzugt von stark kontaminierten Hirschtrüffeln. Doch auch hier, so die Forscher, bestehe keine gesundheitliche Gefahr. Eine Mahlzeit mit 160 Gramm Wildschweinfleisch aus der am stärksten kontaminierten Probe entspreche der Belastung durch Höhenstrahlung auf einem Flug von Frankfurt nach Gran Canaria.

Weil aber auch geringe Dosen radioaktiver Strahlung unter Umständen das Erbgut schädigen können, ist dennoch Zurückhaltung geboten: Das Bundesamt für Strahlenschutz rät, zumindest auf den Genuss selbst erlegten Wildes und selbst gesammelter Pilze zu verzichten. Wild und Pilze aus dem Handel sollten unbedenklich sein, weil es einen Grenzwert für Cäsium-137 gibt.