Depressionen sind der häufigste Auslöser für einen Suizid. Vor allem, weil die Krankheit noch immer ein Tabuthema ist

Hamburg. Der Nationaltorhüter Robert Enke warf sich vor einen Zug. Die Berliner Jugendrichterin und Autorin Kirsten Heisig erhängte sich im Wald. Die Hamburger Kulturmäzenin Birte Toepfer ging ins Wasser. Drei Menschen, die den Tod für sich als letzten Ausweg sahen, drei von weit über 10 000 Menschen, die sich pro Jahr in Deutschland das Leben nehmen. Doch die offiziellen Angaben über Suizide und Suizidversuche entsprechen nicht der tatsächlichen Zahl. Unter den Todesarten Verkehrsunfall, Drogenmissbrauch sowie den "unklaren Todesursachen" verbirgt sich nach Ansicht von Experten eine große Anzahl nicht erkannter Suizide, sodass man mit einer stattlichen Dunkelziffer rechnen kann.

In Hamburg, Ende der 1990er-Jahre noch als "Hauptstadt der Selbstmörder" bezeichnet, versuchen jedes Jahr schätzungsweise 5000 Menschen, sich das Leben zu nehmen. Etwa einem Fünftel gelingt dies leider auch. Epidemiologisch unterscheiden sich Suizidversuche von Suiziden. Sie werden häufiger von Frauen als von Männern und häufiger von jungen als von alten Menschen unternommen. Die Suizidrate - das heißt der Anteil der Suizide auf je 100 000 Einwohner - ist seit Ende der 1990er-Jahre zurückgegangen und beträgt nun 13,8 Prozent (Deutschland gesamt: 12,4 Prozent).

"Während Frauen die Einnahme von Tabletten oder Giften bevorzugen, bringen Männer sich gewöhnlich mit brachialeren Methoden um", sagt Prof. Dieter Naber, 63 Jahre, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum in Hamburg-Eppendorf.

In der Hansestadt sterben dreimal so viel Menschen durch Suizid wie im Straßenverkehr, die Zahl der Suizide überschreitet die Summe der Todesfälle durch Verkehrsunfälle, Aids, Drogenmissbrauch und Gewaltverbrechen. Selbstmord ist die Haupttodesursache für Hamburger zwischen 15 und 40 Jahren. Wenn Menschen endgültig beschließen zu gehen, lassen sie zumeist Bestürzung und Fassungslosigkeit zurück. Angehörige, Freunde, Bekannte und Kollegen sind betroffen und können sich zunächst kaum vorstellen, was in solch einem Menschen vorgegangen ist. Erst bei intensiver Betrachtung können sie den Grund für den Selbstmord dann manchmal nachvollziehen. Ein solcher "Bilanzsuizid" ist zumeist der letzte Schritt eines vorangegangenen körperlichen Leidens. Der Erkrankte will sich nicht mehr quälen, oder er möchte die voraussichtlichen Qualen gar nicht erst erleben. Auch der soziale Abstieg durch Arbeitslosigkeit sowie finanzielle Probleme sind häufige Motive. "Bilanzsuizide machen statistisch jedoch nur etwa fünf Prozent der Fälle aus", sagt Naber. "In den anderen 95 Prozent sind Depressionen der Auslöser für einen Suizidversuch."

Wer an Depressionen erkrankt oder bereits erkrankt ist - und dies betrifft etwa fünf Prozent der Bevölkerung -, kann nichts dafür. "Nach dem heutigen Stand der Forschung wissen wir, dass es eine Vielzahl von krankheitsauslösenden Faktoren gibt", sagt Naber. Dazu zählten unter anderem die genetische Komponente, wenn etwa ein Elternteil an Depressionen leide oder gelitten habe, traumatische frühkindliche Erfahrungen, aber auch Stoffwechselerkrankungen oder Hirntumore. "Heute ziehen wir zwischen endogenen und reaktiven Depressionen keine klare Trennungslinie mehr, sondern unterscheiden zwischen leichten, mittelschweren und schweren Depressionen."

Hauptsächlich sind es die Depressionen allein, die im Verlauf der Krankheit den Wunsch verstärken können, sich selbst zu töten. Schätzungsweise zehn bis 15 Prozent der von Depressionen betroffenen Menschen machen einen Selbstmordversuch. Dabei spielen - statistisch betrachtet - weder die Jahreszeit ("Novemberdepression" oder Weihnachten) noch der Lebensmittelpunkt entscheidende Rollen, wobei die Suizidrate in ländlichen, katholischen Gegenden tatsächlich am niedrigsten ist. "Ob gerade Großstädte depressiv machen können oder ob mehr depressive Menschen bevorzugt in der Großstadt leben, weil sie sich hier mehr Hilfe bei ihrem Kampf gegen die Krankheit erhoffen, kann nicht eindeutig beantwortet werden", so Naber. "Viel entscheidender ist, dass die meisten der Erkrankten Signale aussenden, die von ihrem Umfeld jedoch nur schwer erkannt werden - oder werden wollen."

Denn Suizid sei zum einen ein Tabuthema und zum anderen seien Depressionen noch immer nicht als ernsthafte Krankheit anerkannt. "Oftmals spüren die Menschen im engeren Umfeld des Erkrankten sogar, dass etwas nicht stimmt. Doch es fehlt ihnen schlicht an Mut, dies anzusprechen. Dabei wären die meisten Erkrankten froh, wenn sie endlich über ihre Todesgedanken reden könnten."

Gleiches gilt auch für den Hausarzt, der gegen Mattigkeit, Schlaflosigkeit oder Niedergeschlagenheit gerne Beruhigungsmittel oder Vitaminkuren verschreibt. "Es ist sehr schwer, zwischen dem Burn-out-Syndrom, ernst zu nehmenden Suizidabsichten und Hilferufen zu unterscheiden." Professor Naber, der mit seinem Ärzteteam am UKE jährlich rund 800 bis 900 akut suizidgefährdete Patienten stationär behandelt, schätzt, dass 30 bis 40 Prozent der hausärztlichen Diagnosen zunächst in die falsche Richtung zielen. "Dabei würde es häufig genügen, ganz einfache Fragen nach den Vorlieben und Hobbys der Patienten zu stellen, um herauszufinden, ob sie Freude empfinden können."

Auch plötzlicher starker Alkoholmissbrauch - vor allem bei Männern - könne auf eine starke Depression und Suizidabsichten hindeuten, was man am besten durch einen stationären Klinikaufenthalt aufhalten könne, der in der Regel zwei bis vier Wochen dauert. Naber weiß jedoch auch, dass vor dem Betreten einer psychiatrischen Klinik erst eine große Schwellenangst überwunden werden muss. "Die Zeiten wie im Film 'Einer flog über das Kuckucksnest' sind lange vorbei. Wir erzielen schon seit vielen Jahren sehr gute Behandlungserfolge."

Nach einer gründlichen Untersuchung, um körperliche Ursachen für die Depression auszuschließen, werden die Patienten medikamentös und mit Gesprächsbegleitung therapiert. "Wir versuchen, sie so weit zu stabilisieren, dass sie später mit einer ambulanten Therapie weitermachen können." Aber genau da, so der Professor, stelle sich eine neue Hürde in den Weg: "In kaum einem medizinischen Bereich ist der Unterschied zwischen Privat- und Kassenpatienten so eklatant." Denn Kassenpatienten müssten sich auf eine durchschnittliche Wartezeit von drei bis sechs Monaten einstellen, bis sie einen ambulanten Psychotherapieplatz erhalten. Für einige der Erkrankten sei dieser Zeitraum zu lang.