Forscher haben die Lebensumstände und das Aussehen der 2650 Jahre alten “Moora“ aus dem Uchter Moor rekonstruiert

Hannover. Wir blicken in die Augen einer jungen Frau, die vor etwa 2650 Jahren lebte. Ihre Überreste, gefeiert als archäologische Sensation, beschäftigen seit fünf Jahren Wissenschaftler verschiedener Disziplinen. Gestern stellten die Forscher in Hannover ihre neuesten Erkenntnisse vor - und präsentierten dabei fünf verschiedene Gesichtsrekonstruktionen.

"Es lässt sich natürlich nur annähernd genau sagen, wie das Mädchen ausgesehen hat, insofern gibt es auch nicht ein richtiges Modell", sagte Prof. Klaus Püschel, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am UKE, der die Rekonstruktion des Gesichts koordiniert hat. Er sei zunächst skeptisch gewesen, ob das Vorhaben gelingen werde, sagte Püschel; heute finde er es "imposant, wie ähnlich die fünf Modelle wirken".

"Moora", wie das Mädchen aus dem Uchter Moor in Niedersachsen getauft wurde, war 2000 beim Torfabbau entdeckt worden. Von den Behörden zunächst als ungeklärter Todesfall neuerer Zeit eingestuft, nahm der Fall 2005 eine überraschende Wendung, als die noch fehlende rechte Hand gefunden wurde. Moora, so stellte sich durch eine Radiokohlenstoffdatierung am Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege (NLD) heraus, stammt aus der vorrömischen Eisenzeit. Seitdem gilt sie als "Ötzi des Nordens". Sie ist die älteste Moorleiche Norddeutschlands.

Bevor Moora ein Gesicht bekommen konnte, war zunächst eine digitale Rekonstruktion notwendig, die ein Team am Institut für Medizinische Informatik am UKE vornahm. Anschließend modellierten bzw. zeichneten fünf Wissenschaftlerinnen die Haut sowie Augen und Haare des Mädchens.

Eines der Modelle erstellte die Hamburger Anthropologin Sabine Ohlrogge. Zwei Wochen brauchte sie für die Arbeit. "Ich hatte ein Duplikat des Schädels zur Verfügung, dazu den Untersuchungsbericht", sagt sie. Aus Daten zu Geschlecht, Alter und Ernährungszustand ermittelte sie die Weichteildicke des Gesichtes. Ohlrogge: "Da wir wissen, dass es dem Mädchen nicht besonders gut ging, habe ich mich an den unteren Grenzwerten orientiert." Augen- und Haarfarbe seien künstlerische Freiheit, sagt Ohlrogge - so hat ihr aus Plastilin geformtes Moora-Modell dunkle Augen und dunkle Haare.

Doch die Forscher können mittlerweile nicht nur Moores Aussehen gut bestimmen, sie haben auch Erkenntnisse über die Lebensumstände des Mädchens. Bis 2008 hatten sie herausgefunden, dass die junge Frau etwa 1,50 Meter groß und Linkshänderin war. Sie starb wahrscheinlich im Alter von 16 bis 19 Jahren. In den folgenden zwei Jahren gelang es den Forschern durch Bildgebende Verfahren wie Computertomografie und Magnetresonanztomografie sowie durch konventionelle Radiologie, weiteren Informationen auf die Spur zu kommen. Sie lassen auf ein hartes Schicksal schließen: Trotz ihres jugendlichen Alters habe die Frau unter einer Verkrümmung der Wirbelsäule und einer chronischen Entzündung des Schienbeins gelitten, sagte Prof. Michael Schultz, Paläopathologe von der Universität Göttingen. Außerdem sei an der Schädelbasis ein gutartiger Tumor nachgewiesen worden. Frakturen der Schädeldecke, verursacht durch stumpfe Gewalteinwirkung, deuteten auf Probleme im sozialen Umfeld hin.

"Es war bisher sehr schwer herauszufinden, wie die Menschen im norddeutschen Raum während der Eisenzeit lebten, denn es gibt keine schriftlichen Dokumente aus dieser Zeit", sagt Landesarchäologe Henning Haßmann vom NLD. Erschwerend sei hinzugekommen, dass zu Lebzeiten des Mädchens Feuerbestattungen üblich waren. Deshalb lägen menschliche Überreste aus dieser Epoche nur als verkohlte Knochensplitter vor.

Moorleichen seien dagegen besser erhalten, wobei Moora in einem "spektakulär guten Zustand" sei, weil der feuchte Torf nicht nur die Knochen, sondern auch Haut und Haare des Mädchens konserviert habe. "Ihre Überreste waren wie in einer Zeitkapsel eingeschlossen", sagt Haßmann. "Das ermöglicht uns einzigartige Einblicke."

Wie sah die Landschaft zu Lebzeiten des Mädchens aus? Um das zu rekonstruieren, haben die Forscher ein dreidimensionales Geländemodell erstellt. Dazu nahmen sie an mehr als 5000 Stellen im Uchter Moor Proben aus dem Torfboden, schnitten sie in dünne Scheiben und extrahierten daraus fossilen Blütenstaub.

Welche Hinweise sich daraus ergeben, erläutert Paläobotaniker Dr. Andreas Bauerochse vom NLD: "Je nachdem, um welche Pollen es sich handelt - ob sie etwa aus Wäldern stammen, von Gräsern oder von Kräutern wie Spitzwegerich und Sauerampfer -, und je nachdem, in welcher Menge wir diese Pollen nachweisen, können wir darauf schließen, ob die Landschaft hauptsächlich bewaldet war, ob es Lichtungen gab, auf denen Menschen gesiedelt haben könnten, und ob diese Menschen Landwirtschaft betrieben."

Dabei galt es zu beachten, dass die Oberfläche des Moors bis heute um schätzungsweise bis zu drei Meter in die Höhe gewachsen ist. "Diesen Wert haben wir abgezogen, um die Höhenverteilung der damaligen Landschaft zu berechnen", erklärt Bauerochse. Demnach war das Moor zu Mooras Lebzeiten kleiner als heute. Von den Seiten ragten Landzungen halbinselartig in die Sumpflandschaft.

Fest steht auch: Die Gegend war besiedelt. "Wir haben schon eine recht genaue Vorstellung davon, an welcher Stelle wir im Moor weitere Überreste von prähistorischen Menschen finden könnten", sagt Bauerochse. Er sei überzeugt: "Da ist noch mehr."