Mit einer Gentherapie behandelten Ärzte in Hannover weltweit erstmals erfolgreich eine seltene Erbkrankheit
Hannover. Felix hatte einen schweren Start ins Leben. Schon gleich nach der Geburt musste er das erste Mal auf die Intensivstation, weil die Zahl der Blutplättchen in seinem Blut extrem niedrig war, was zu lebensbedrohlichen Blutungen führen kann. Doch erst als der Junge dreieinhalb Jahre alt war, wurde die Diagnose gestellt: Felix litt am Wiskott-Aldrich-Syndrom, einer seltenen Immunkrankheit, die über das X-Chromosom vererbt wird und nur bei Jungen auftritt. Die behandelnden Ärzte prophezeiten dem Kind nur eine geringe Lebenserwartung.
Die Familie Ott lebte in ständiger Angst. Jeder Sturz oder eine innere Blutung hätten für Felix den Tod bedeuten können. "Die Angst, ihn abends ins Bett zu legen und nicht zu wissen, ob er wegen einer inneren Blutung morgens vielleicht nicht mehr aufwacht, war der blanke Horror für uns", erinnert sich die Mutter von Felix, Marion Ott. Doch 2009 konnte Felix mit einer neuen Therapie geholfen werden. Er gehörte zu den weltweit zehn ersten Kindern mit der Erkrankung, die an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) mithilfe einer Gentherapie behandelt wurden. Hierbei wurde das defekte WAS-Gen auf dem X-Chromosom durch eine gesunde Kopie ausgetauscht. Heute geht es Felix bestens.
In einer klinischen Studie ist es dem Team um Prof. Christoph Klein, dem Direktor der MHH-Klinik für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie gelungen, mit Hilfe der Gentherapie die Symptome der schweren Erbkrankheit zu beseitigen: Acht von zehn Patienten, die im Zeitraum von 2006 bis 2009 behandelt wurden, zeigten bis zu vier Jahre nach dem Eingriff keine Krankheitszeichen mehr und führen ein normales Leben. Erste Ergebnisse der beiden am längsten erfolgreich behandelten Patienten wurden jetzt in der renommierten Fachzeitschrift "New England Journal of Medicine" veröffentlicht.
Bei dem Verfahren waren Felix zunächst seine eigenen Blutstammzellen entnommen und gereinigt worden. Im Labor schleusten die Forscher mit Hilfe von Viren, die als "Gentaxi" fungieren, eine gesunde Kopie des WAS-Gens in die Erbinformation der Stammzellen ein und gaben diese Felix anschließend zurück. Nach der Transplantation der korrigierten Blutstammzellen normalisierten sich innerhalb eines Jahres Zahl und Funktion der Blutzellen. Die Krankheitssymptome klangen vollständig ab. Felix, inzwischen fünf Jahre alt, kann nun ein normales Leben führen. Vater Oliver Ott ist glücklich: "Heute kann unser Sohn mit anderen Kindern toben und spielen. Wir müssen ihn nicht mehr wie ein rohes Ei behandeln."
Doch nicht bei allen Kindern war die Therapie so erfolgreich. Bei einem Patienten konnten nicht genug korrigierte Zellen gewonnen werden. Ein anderer kleiner Patient erkrankte an Leukämie. "Das Kind wurde im Frühjahr 2009 behandelt, und vor zwei Wochen haben wir die Leukämie festgestellt. Wir sind darüber sehr schockiert. Das ist ein herber Rückschlag", sagt Klein.
Ganz unerwartet war diese Nebenwirkung nicht. Denn um die gesunde Kopie des Gens in die Zellen zu transportieren, werden Viren als sogenannte Vektoren benutzt. Um ein Virus als "Gentaxi" benutzen zu können, wurden alle Virusgene entfernt und stattdessen das gesunde WAS-Gen eingesetzt. "Doch bei diesen Retroviren besteht immer die Gefahr, dass dadurch benachbarte Gene aktiviert werden", sagt Christoph Klein. Dadurch könnten im ungünstigsten Fall auch Krebserkrankungen ausgelöst werden. Deshalb sei es wichtig, die Kinder auch nach der Therapie gut im Blick zu behalten. Die ersten drei Jahre werde alle drei Monate das Knochenmark untersucht, danach in längeren Abständen.
Prof. Christof von Kalle vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg, ein Spezialist auf dem Gebiet der Sicherheit von Gentherapiestudien, untersucht mit seinem Team in regelmäßigen Abständen die korrigierten Blutstammzellen der Patienten auf krebsauslösende Faktoren. "Wenn auch bei den ersten WAS-Patienten zunächst keine Anzeichen einer Gefährdung durch Wachstum einzelner Klone beobachtet werden konnten, so sind mögliche Rückschläge nicht auszuschließen", stellt der Experte fest. So deuten erste Untersuchungen darauf hin, dass die Leukämie bei einem der Patienten durch Retroviren mit ausgelöst wurde, ähnlich wie bei vorausgegangenen Gentherapiestudien in Paris und London.
In der Pariser Studie war 2002 bei einem von elf Patienten, die wegen einer schweren angeborenen Immunschwäche (X-SID) mit einer Gentherapie behandelt wurden, drei Jahre nach dem Gentransfer ebenfalls eine Leukämie aufgetreten. In einer britischen Studie von 2007 zur Behandlung von X-SID erkrankte wiederum eins von zehn Kindern an Leukämie.
Doch angesichts der schweren Erkrankung und dem Mangel an Behandlungsalternativen wird die Gentherapie beim Wiskott-Aldrich-Syndrom weiterhin eine Option sein. "Für Patienten, für die man keine geeigneten Stammzellspender hat, ist es akzeptabel, die Gentherapie anzuwenden, weil sie sonst kaum eine Überlebenschance haben", sagt Prof. Boris Fehse, Leiter der Forschungsabteilung Zell- und Gentherapie an der Klinik für Stammzelltransplantation am Universitätsklinikum Eppendorf und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Deutschen Gesellschaft für Gentherapie.
Eine Stammzelltransplantation ist die einzige Alternative. Dafür muss aber auch ein geeigneter Spender gefunden werden. "Wenn die Gewebeeigenschaften gut passen, haben wir eine Chance von 85 bis 90 Prozent, dass alles gut geht. Es besteht aber auch dann das Risiko, dass sich das neue Knochenmark des Spenders gegen das Gewebe des Empfängers richtet", sagt Klein. Werde kein geeigneter Spender gefunden, sei man gezwungen, auf Spenden zurückzugreifen, die nicht optimal passen. Dann bestehe für die Kinder nur noch eine Überlebenschance von 50 Prozent.
Klein und sein Team bereiten jetzt eine Folgestudie für Patienten mit Wiskott-Aldrich-Syndrom vor, in der sie die Viren verändert haben. "Wir gehen davon aus, dass neue Vektoren die Gefahr reduzieren, aber man wird sie nie ganz eliminieren können", sagt Klein.