Medienwissenschaftlerin Johanna Leuschen erforscht Internetfernsehen

Hamburg. Auf ihre Homepage hat Johanna Leuschen zwei Fotos gestellt. Das eine zeigt sie mit schwarzer Baskenmütze und senffarbenem Kurzmantel, Motiv Modeprospekt. Darunter das andere Foto: ein halbdunkler Gang, sie - Sportjacke, Jeans, Turnschuhe - lässig an einer Mauer lehnend, auf der Graffiti prangt. So lassen sich gerne Musiker ablichten, die möglichst cool aussehen wollen. Musikerin ist Leuschen zwar nicht, erfährt der Besucher, aber sie arbeitet als Moderatorin, die Musiker interviewt, als Producerin und Redakteurin. Außerdem betreibt sie ihre eigene Internetsendung. Und als sei das nicht genug, arbeitet sie auch noch an ihrem neuesten Projekt, das alles miteinander vereint: einer Doktorarbeit über Web-TV - Internetfernsehen.

Doktorarbeit, das bedeutet Literatursuche in der Bibliothek. Exposé und Gliederung. Fragestellungen, Hypothesen, Zitate und Fußnoten. Vergleichsweise langweilig, eigentlich - und cool schon gar nicht, oder, Frau Leuschen? "Warum kann ich nicht eine coole Internetsendung machen und gleichzeitig Web-TV wissenschaftlich analysieren? Ich finde gerade diese Kombination spannend", sagt Leuschen.

Der Punkt geht an sie. Die 27-Jährige tanzt auf vielen Hochzeiten, aber sie tut das so selbstbewusst und glaubhaft, dass man ihr verschiedene Rollen abnimmt.

Rotherbaum, Mittelweg, ein Eckbüro im fünften Stock. Drei Schreibtische mit neuen iMacs, der Blick geht über die Dächer zur Alster. "Ich weiß schon, es ist luxuriös, so zu promovieren", sagt Leuschen. Sie teilt sich das Büro mit zwei weiteren Doktoranden: Der Politikwissenschaftler Ole Keding untersucht, welche Rolle das Internet im Wahlkampf spielt; Kommunikationswissenschaftler Sebastian Deterding erforscht, wie Computerspiele motivieren.

Die Drei gehören zu einer Gruppe von 32 Nachwuchsforschern in der Graduate School Media and Communication der Landesexzellenzinitiative. Während einige ihrer Doktorandenkollegen ein Vollstipendium erhalten, bekommt Johanna Leuschen allerdings nur einen Zuschuss für drei Monate; sie muss regelmäßig jobben, um sich ihre Promotion leisten zu können.

Das Programm wird vom Research Center for Media and Communication (RCMC) koordiniert, in dem sich neben der Universität Hamburg auch das Hans-Bredow-Institut und die Hamburg Media School engagieren. "Wir wollen die vielfältige Hamburger Medienforschung unter einem Dach zusammenführen", sagt der Sprecher der Graduiertenschule, Professor Michel Clement. Deshalb sei das Doktorandenprogramm interdisziplinär angelegt: Geisteswissenschaftler arbeiteten zusammen mit Medienrechtlern, Betriebs- und Volkswirten.

Die traditionellen Medien sind Johanna Leuschen zu wenig innovativ

Johanna Leuschen hat Medienwissenschaften studiert, doch für die traditionellen Medien wie Zeitung, Radio und Fernsehen interessiere sie sich weniger, sagt sie. Zu wenig innovativ gehe es dort zu, zu viel Einförmigkeit finde sich dort im Gegensatz zum Internet: "Im Web kommt es vor allem darauf an, originell zu sein, witzige Ideen zu haben", sagt Leuschen. "Wer das schafft, findet schnell eine Fangemeinde." Dabei sei es vergleichsweise günstig, eine Internetsendung zu produzieren: "Man braucht nur eine gute Kamera, ein Mikrofon und einige Software."

Und so kommt es, dass allein die Zahl der deutschsprachigen Web-TV-Formate kaum zu überblicken ist. Es gibt Videos über die Facetten des Angelsports auf bissclips.tv, es gibt Fußball-Comedy auf der Seite "Deutsche 11 backstage" oder Festivalberichte bei Hobnox.com - alles Formate, die zum Teil sehr genau auf eine stark eingegrenzte Zielgruppe zugeschnitten sind.

Vielfalt bedeutet aber nicht zwangsläufig Qualität. Und originell ist auch längst nicht alles, was sich an "onlinevermittelten Bewegtbildinhalten" im Netz tummelt. Doch um die Spreu vom Weizen zu trennen, müsste sich erst einmal jemand einen Überblick verschaffen.

Eine Web-TV-Sendung sollte extra für das Internet produziert sein

Das ist Johanna Leuschens Mission. Sie will definieren, was Web-TV eigentlich ist - oder sein sollte. Wenn zum Beispiel ein Fernsehkanal seine Nachrichtensendung als "Zweitverwertung" im Internet überträgt, ist das dann Web-TV? Nein, meint sie schon jetzt, denn eine "echte" Web-TV-Sendung müsse extra für das Internet produziert werden und möglichst webtypische Funktionen wie etwa Verlinkungen und Kommentare nutzen.

Sie will die Formate kategorisieren und beschreiben: Wie unterscheiden sich Videos, die traditionelle Medien ins Netz stellen, von jenen, die einzelne Akteure auf ihrer Homepage präsentieren; welche Besonderheiten zeigen sich bei Plattformen wie YouTube, wo Millionen von Nutzern eigene Videos hochladen können? Welche technischen Standards nutzen die unterschiedlichen Web-TV-Formate und auf welchen Endgeräten - Computer, Handy, iPad, Fernseher - lassen sie sich abspielen? Wie beeinflussen sich klassisches Fernsehen und Web-TV - und was bedeutet das für die Zukunft von beiden?

Vor ihr liegen weit mehr als 1000 Stunden vor dem Bildschirm und unzählige Mausklicks, doch Johanna Leuschen ist sich sicher, dass sich der Aufwand lohnt: "Nur durch wissenschaftliche Definitionen und durch den systematischen Vergleich lässt sich bestimmen, welche Web-TV-Formate tatsächlich etwas Neues bieten - und ob das Neue Sinn macht und Erfolg haben kann", so die Hamburger Medienwissenschaftlerin.

Apropos Erfolg: Es genügt im Internet nicht, nur originell zu sein, das hat Johanna Leuschen durch ihre eigene Internetsendung "BalconyTV" erfahren. Auf einem Balkon hoch über der Reeperbahn präsentiert sie täglich Nachwuchsbands, zusammen mit dem Fernsehjournalisten Lars Kaufmann. Dafür waren die beiden sogar für den renommierten Webby Award nominiert; kürzlich feierten sie ihre 1000. Folge.

Mit der Arbeit muss sie sich beeilen, so schnell wie sich das Internet verändert

Geld verdienen sie damit allerdings nicht: "Wir bewegen uns irgendwo zwischen einem Low-Budget- und einem No-Budget-Projekt", sagt Leuschen und lacht. Leidenschaft und Lob allein reichten nicht, aber: "Ich glaube daran, dass auch kleine Web-TV-Formate wie 'BalconyTV' rentabel sein können." Die Werbewirtschaft werde das Potenzial des Internets bald stärker nutzen, "das braucht allerdings noch Zeit".

Nicht viel Zeit hat die Nachwuchsforscherin für ihre Doktorarbeit. So schnell wie das Internet verändern sich auch seine Videoformate, täglich poppen neue Sendungen hoch, andere verschwinden wieder. "Ich werde von meinem Thema getrieben", sagt Leuschen. "Falls in drei Monaten das neue YouTube kommt, kann ich einen Teil meiner Ergebnisse in die Tonne kloppen."

Doch selbst, wenn es so kommen sollte, muss man sich um Johanna Leuschen wohl keine Sorgen machen. Ihr wird schon etwas einfallen.