Exzellenzserie - Teil 6: Umweltingenieurin Nina Kumbruck untersucht, wie sich das Watt durch den Menschen verändert

Hamburg. Der Weg zu Nina Kumbrucks Arbeitsplatz führt durch zwei Meter hohes, feuchtes Schilfgras. Sie geht voran, ihre rote Schildmütze ist unser Orientierungspunkt. "Den Weg erkennen Sie daran, dass die Füße gehen, aber der Rest nicht mitkommt", ruft sie, während wir uns eine Machete wünschen und darauf achten, nicht in einen der schlammigen Priele zu fallen, die sich am Boden verbergen. 20 Minuten und einige Mückenstiche später sind wir am Ziel - und stehen knöcheltief im Schlick. "Ich finde Watt ja klasse", sagt Kumbruck.

Vor uns erstreckt sich eine graubraune Ebene, in der Laugenblumen gelbe Tupfer bilden; in der Ferne, einen Kilometer weiter, fließt die Elbe ins Meer. Neufeld in Schleswig Holstein, 11.30 Uhr, Niedrigwasserzeit, der Fluss hat sich weit zurückgezogen. Kumbruck zückt einen Kompass und stößt einen Stab mit einem tellerförmigen Aufsatz in den Schlick. Der Aufsatz dient als Sender für ein D-GPS-Gerät, mit dem sie auf einem Areal von 100 000 Quadratmetern die Höhe von 50 Punkten misst, von der Wattkante am Schilf bis zur Fahrrinne, wo Frachtschiffe Richtung Hamburg fahren. Aus den GPS-Daten wird ein Computer später Karten berechnen, die auf fünf Zentimeter genau Anhöhen und Vertiefungen zeigen - und erste Anhaltspunkte liefern, wie sich die Wattfläche mit der Zeit verändert.

Biologen, Geowissenschaftler und Ingenieure arbeiten zusammen

Nina Kumbruck hat Ingenieurwesen für Landeskultur und Umweltschutz studiert, seit Januar 2010 arbeitet die 28-Jährige als Doktorandin der Technischen Universität Hamburg-Harburg in der "Estuary and Wetland Research Graduate School Hamburg" (ESTRADE) der Landesexzellenzinitiative. An den Forschungen beteiligt sind auch die Universität Hamburg und die HafenCity-Universität. Betreut von 32 Wissenschaftlern widmen sich 14 Nachwuchsforscher - Biologen, Geowissenschaftler und Ingenieure - sogenannten Ästuaren, trichterförmigen Flussmündungen an Gezeitenküsten. Für die ersten Studien müssen sie nicht weit reisen, denn Deutschlands größtes Ästuar liegt vor Hamburgs Haustür: die Elbmündung.

Die Feuchtgebiete von Ästuaren - Wattflächen, Marschen, Auen - sind einzigartige Biotope für Würmer, Krebse und Schnecken. Sie dienen aber auch als natürliche Klärgruben: Bakterien im Watt wandeln Stickstoffverbindungen, die die Wasserqualität der Küstengewässer verschlechtern, in harmlosen Luftstickstoff um. Und dann gibt es da noch außergewöhnliche Pflanzen, die als dünner Film auf dem Watt haften. Nina Kumbruck berührt den Schlick mit ihrem Zeigefinger und zeigt die grüne Fingerspitze: "Auf dieser kleinen Fläche befinden sich jetzt eine Million Kieselalgen, das sind ganz erstaunliche Organismen." Erstaunlich sind diese Einzeller insofern, weil sie im großen Stil Fotosynthese betreiben. Bei diesem Prozess wandeln Pflanzen durch Licht klimaschädliches Kohlendioxid zusammen mit Wasser in Kohlenhydrate und Sauerstoff um.

Ästuare wie die Elbmündung sind also schützenswert, doch der Mensch ist nicht weit, und mit ihm beeinflussen Tourismus, Landwirtschaft und Schifffahrt die empfindlichen Ökosysteme. Zum Beispiel die geplante Elbvertiefung: In den nächsten Jahren soll der Fluss nochmals um einen Meter ausgebaggert werden, damit Schiffe mit Tiefgang bis zu 14,5 Metern den Hamburger Hafen erreichen können. Wie sich das auf Feuchtgebiete an der Elbe auswirken wird - unklar. Umweltschützer sind gegen den Ausbau; in Niedersachsen gibt es Bedenken wegen möglicher Risiken für die Sicherheit der Deiche.

Oder der durch den Menschen verursachte Klimawandel: Mit genauen Vorhersagen sind Experten vorsichtig, als wahrscheinlich gilt aber, dass der Meeresspiegel weiter ansteigen wird und extreme Wetterereignisse in Nordeuropa zunehmen werden. Mögliche Folgen für die Nordseeküste und somit auch für die Elbe: stärkere Sturmfluten, länger anhaltende Überschwemmungen. "Wir brauchen für Ästuare wie die Elbmündung eine nachhaltige Nutzung, die wirtschaftliche Interessen und Naturschutz verbindet", sagt ESTRADE-Sprecher Professor Kai Jensen. Dafür sei noch viel Forschung notwendig.

Schlick lagert sich an manchen Stellen an und verschwindet andernorts

Deshalb steht Nina Kumbruck jetzt im Watt vor Neufeld. Als Kind sei sie mit ihrer Familie oft an die Nordsee gefahren, erzählt die Forscherin, daher die Liebe zur Küste und das Interesse für den Umweltschutz. Ihre Diplomarbeit schrieb sie über "Halligigel", Deckwerke aus Stein oder Beton, die Halligen wie Langeneß gegen Wellen und vor Erosion schützen. Um Erosion, also den Abtrag einer Erdoberfläche, geht es auch in ihrer Doktorarbeit, allerdings erforscht sie jetzt den Schlick. Dieses glitschige Gemisch aus Feinsand, Algen und Mikroorganismen ist im wahrsten Sinne des Wortes schwer greifbar: Mal lagert es sich an einer Stelle an, dann verflüchtigt es sich wieder, ohne dass der Grund auf Anhieb erkennbar wäre. Wattflächen sind nicht "standortstabil", wie Nina Kumbruck es nennt.

Die Höhenkarten, die sie mithilfe des GPS-Geräts erstellt, sind nur ein erster Schritt, um die Erosion der Wattfläche zu erfassen. In den kommenden Monaten wird sie vor Neufeld Bodenproben nehmen und im Labor messen, wie viel Chlorophyll - Blattgrün - der Schlick enthält. Dabei interessiert sich Kumbruck vor allem für die Kieselalgen, weil sie die Wattflächen wahrscheinlich vor starker Erosion schützen. Doch die Analyse des Algenanteils allein sagt noch nichts darüber aus, wie sich die Wattfläche verhält, wenn Wasser sie überflutet. Verursacht dann vor allem die Strömung eine Erosion? Welche Rolle spielt der Seegang? Und wie verhalten sich die Kieselalgen unter verschiedenen Bedingungen? Um das zu erforschen, wird Kumbruck ihre Proben später in einem Strömungskanal an ihrer Uni testen.

Kumbrucks Ergebnisse könnten dem Küstenschutz helfen

Interessant für den Küstenschutz, für Institutionen wie etwa Hamburgs Hafenbehörde oder den Landesbetrieb für Küstenschutz in Schleswig Holstein, dürften vor allem die Prognosen sein, die Nina Kumbruck mit dem Abschluss ihrer Arbeit liefern will. Denn das Wissen, wie und wo durch Stürme und Überschwemmungen Watt abgetragen wird und wohin sich Priele verlagern könnten, entscheidet zum Beispiel darüber, ob Deiche besser befestigt oder sogar neu gebaut werden müssen.

Über Neufeld ziehen Wolken auf, Nieselregen geht auf das Watt nieder. Nina Kumbruck zieht ihren GPS-Messstab aus dem Schlick. "Es wird Zeit", sagt sie, "gleich kommt die Flut", und marschiert durch das Schilf zurück zum Deich.