Der Superkeim ist resistent gegen praktisch alle Antibiotika. Darum könnte er sich schnell auf der ganzen Welt ausbreiten.

London. Ein neuer Superkeim aus Indien könnte sich nach Einschätzung von Wissenschaftlern wegen des Medizintourismus weltweit ausbreiten. Das Gen namens NDM-1 (Neu Delhi Metallo-beta-lactamase) mache Bakterien resistent gegen fast alle Antibiotika, erklärten Wissenschaftler in London. Die Forscher stellten den Superkeim bei 37 Patienten in Großbritannien fest, von denen sich einige zuvor zur ärztlichen Behandlung in Krankenhäusern in Indien oder Pakistan aufgehalten hatten. In den USA verzeichneten die Gesundheitsbehörden bisher drei Fälle. Alle Patienten seien in Indien medizinisch versorgt worden.

Indien steht als Reiseziel hoch im Kurs bei Amerikanern und Briten, die eine billigere medizinische Behandlung als zuhause suchen. Besonders gefragt sind Schönheitsoperationen.

Selbst die wirkungsvollste Klasse von Breitband-Antibiotika, die sogenannten Carbapeneme, können Bakterien mit NMD-1 nach Angaben der Forscher nicht besiegen. Die hochwirksamen Antibiotika werden für Notfälle zurückgehalten und zur Behandlung von Infektionen eingesetzt, die durch multi-resistente Bakterien wie MRSA und den ebenfalls sehr häufigen Krankenhauskeim Clostridium difficile ausgelöst wurden. Die Entwicklung eines wirksamen Medikaments gegen Infektionen mit dem neuen Superkeim ist nach Aussage der Experten nicht absehbar.

Timothy Walsh, der Leiter der im Medizinjournal "The Lancet" veröffentlichten Studie, befürchtet, dass sich der Superkeim weltweit ausbreiten könnte. „Wegen des Medizintourismus und der internationalen Reisetätigkeit insgesamt könnte sich die Resistenz sehr, sehr rasch auf der ganzen Welt verbreiten“, sagte der Wissenschaftler von der Universität in Cardiff. Laut Doktor Alexander Kallen von der US-Gesundheitsbehörde CDC, die für den Umgang mit Infektionskrankheiten zuständig ist, nutzt das NMD-1-Gen einen speziellen Mechanismus, um Bakterien gegen Antibiotika resistent zu machen.

Schon kurz nach der Einführung des ersten Antibiotikums Penizillin in den 40er Jahren entwickelten Bakterien Resistenzen gegen seine Wirkung. Die Wissenschaft reagierte darauf mit der Entwicklung immer neuer Generationen von Antibiotika. Der zu häufige oder falsche Gebrauch der Mittel bereitete jedoch Superkeimen den Weg, die gleich gegen mehrere Antibiotika unempfindlich sind. Dazu gehören Bakterienstämme wie MRSA, die besonders in Krankenhäusern auftreten und sehr gefürchtet sind. Deutsche Krankenhäuser sind im Vergleich zu anderen europäischen Kliniken beispielsweise in den Niederlanden deutlich stärker mit diesen Keimen belastet.

Walshs Team fand nun heraus, dass sich der Superkeim NMD-1 zunehmend in Bangladesch, Indien und Pakistan ausbreitet. Dort behandelte Patienten transportierten ihn nach Großbritannien zurück. „Auch Europäer aus anderen Ländern und Amerikaner reisen für Schönheitsoperationen nach Indien, daher wird sich NMD-1 wohl weltweit ausbreiten“, schrieben die Wissenschaftler in ihrer Studie. Dr. Kallen von der Gesundheitsbehörde CDC sagte, die USA nähmen die NMD-1-Infektionen ernst. Die Resistenz gegen Carbapeneme sei aber nicht neu in den USA. „Was neu ist, ist der spezielle Mechanismus“.

Zwei Medikamente können nach Angaben von Experten bei Infektionen mit Carbapenem-resistenten Bakterien helfen: Das ältere Antibiotikum Colistin, das einige giftige Nebenwirkungen aufweist, und das Antibiotikum Tygacil von Pfizer. Die Pharma-Industrie hat die Antibiotika-Forschung jedoch seit vielen Jahren stiefmütterlich behandelt – zu groß ist die Kluft zwischen den großen Schwierigkeiten bei der Suche nach neuen Medikamenten und den bescheidenen Verkaufszahlen dieser Produkte, die gewöhnlich zur Behandlung der schwersten Fälle aufgespart werden.

Die zunehmende Bedrohung durch Superkeime fördert allerdings ein Umdenken in der Branche. Zu den wenigen großen Unternehmen, die noch nach neuen Antibiotika forschen, zählen Pfizer, Merck & Co., AstraZeneca, GlaxoSmithKline und Novartis. Der Chef der Forschungsabteilung bei AstraZeneca, Andres Ekblom, hält nach eigenen Worten große Stücke auf Investitionen in neue Antibiotika. „Bakterien entwickeln ständig Resistenzen zu unserem Arsenal von Antibiotika. NMD-1 ist nur das aktuellste Beispiel“. AstraZenecas Antibiotikum Merrem war Wegbereiter der Carbapeneme.