Exzellenzserie - Teil 3: Germanistin Ruth Pappenhagen untersucht den Einfluss von Fremdsprachen

Hamburg. Am Eingang des "Dostana Store" posieren zwei Schaufensterpuppen mit bodenlangen blauen Saris, indischen Gewändern, daneben stapeln sich Kästen mit Ingwer und grünen Peperoni, im Schaufenster stehen Wasserpfeifen. Ein intensiver Geruch von Gewürzen strömt auf die Straße. Dort steht Ruth Pappenhagen mit Kamera und Notizblock, ihr Blick schnellt umher; sie schreibt, sie fotografiert, sie saugt alle Eindrücke in sich auf. "Total spannend, oder? Wie ein kurzer Indien-Urlaub."

Wir sind in St. Georg, Steindamm. Keine Gegend für biedere Zeitgenossen: Pornokinos, Handy-Gebrauchtläden und Döner-Imbisse reihen sich aneinander; jeder vierte Einwohner ist Ausländer. Wer die Klischeebrille aufsetzt, sieht hier vor allem: leichte Mädchen und schwere Jungs, Männer mit Turbanen, fremd anmutende Geschäfte. Ruth Pappenhagen sieht ein "buntes, quirliges Viertel", sie entdeckt an jeder Ecke neue Zeichen und Schriften, sie fühlt sich gerade von jenen Dingen angezogen, die sie nicht versteht. Für sie ist der Stadtteil St. Georg vor allem ein "Paradebeispiel für Hamburgs sprachliche Vielfalt" - und deshalb ein ideales Forschungsgebiet.

Die 28 Jahre alte Sprachwissenschaftlerin hat Germanistik und Philosophie studiert. Seit 2009 arbeitet sie als Doktorandin im Forschungsprojekt "Linguistic Diversity Management in Urban Areas", kurz "LiMA", der Landesexzellenzinitiative. Neben der Universität Hamburg sind an den Untersuchungen auch die HafenCity-Universität, die Universität Calgary und das Kompetenzzentrum zur Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund beteiligt. Das Team besteht aus 65 Forschern, die vor allem der Frage nachgehen, wie sich verschiedene Sprachen in Metropolen auswirken. Dabei fangen sie direkt vor der Haustür an. Denn nach aktuellen Schätzungen sprechen Menschen mit Migrationshintergrund in Hamburg mindestens 180 verschiedene Sprachen.

Wie kommt diese Vielfalt zustande? Zwei Beispiele: Den größten Teil der ausländischen Bevölkerung im Bezirk Hamburg-Mitte, rund 27 Prozent, bilden Menschen, die aus der Türkei stammen. In der Türkei wird zwar hauptsächlich türkisch gesprochen, daneben existieren aber noch etwa 20 weitere Sprachen. Immerhin fünf Prozent der Ausländer im Bezirk Hamburg-Mitte stammen aus Afghanistan - dort werden sogar fast 50 verschiedene Sprachen gesprochen. Ob aber etwa die in Hamburg lebenden Afghanen tatsächlich diverse Sprachen sprechen, wo genau sie das tun, wie und in welchen Zusammenhängen sie verschiedene Sprachen nutzen - privat, geschäftlich, mündlich, schriftlich - das alles ist unklar und soll deshalb im Projekt LiMA untersucht werden.

In einer Zeit, in der Integration zu den größten Herausforderungen der Gesellschaft zählt, werde bislang zu wenig wahrgenommen, dass Mehrsprachigkeit in Metropolen wie Hamburg nicht nur Probleme verursache, sondern auch ein Gewinn sein könne, sagt LiMA-Sprecher Professor Peter Siemund: "Ich bin überzeugt, dass wir Mehrsprachigkeit noch viel stärker für die kulturelle, soziale und die ökonomische Entwicklung der Stadt nutzen könnten." Viele Vorteile seien denkbar, zum Beispiel im Tourismus: Wenn genau bekannt wäre, an welchen Stellen welche Sprachen gesprochen werden, könnte die Stadt dort Touristenführer anwerben, sie könnte Touristen aus bestimmten Ländern gezielt auf diese Stellen hinweisen, sie könnte dort die Beschilderung entsprechend verbessern und passende Prospekte erstellen.

Doch nicht nur den Besuchern der Stadt könnte man mit einem fundierten Wissen über Mehrsprachigkeit das Leben erleichtern, sondern auch den Bewohnern mit Migrationshintergrund: im Krankenhaus beispielsweise, wo Muttersprachler mit medizinischen Kenntnissen als Dolmetscher fungieren, oder in Ämtern, Banken und Beratungsstellen, wo mehrsprachige Schilder und ausländisches Personal den Besuchern weiterhelfen.

Auf dem Weg zu einer besseren Verständigung wollen die LiMA-Forscher zunächst eine Sprachkarte von Hamburg erstellen - "linguistic landscaping" ennen sie das. Dafür sammelt Ruth Pappenhagen mit zwei Kollegen in St. Georg eine Menge Daten. Sie nimmt sich einen Straßenzug wie den Steindamm vor und fotografiert ausländische Beschriftungen: auf Schaufenstern und Schildern, Produkten, Speisekarten und Wohnungsanzeigen, an Supermärkten und Reisebüros, an Arztpraxen und Anwaltskanzleien. Zu jedem Foto notiert sie die Adresse. Dabei wecken vor allem jene Objekte ihr Interesse, auf denen Schriftzüge in mehreren Sprachen stehen.

Das Schaufenster des indischen Dostana Store ist so ein Beispiel: Die Beschriftung "Dostana Store" in dicken roten Lettern besteht aus Zeichen des uns bekannten lateinischen Alphabets; darüber steht eine Übersetzung in weiß-roten Schriftzeichen, bei denen es sich aber nicht um eine indische, sondern um Farsi handelt, eine Sprache, die unter anderem in Afghanistan gesprochen wird. Der Grund ist einleuchtend: "60 Prozent unserer Kunden sind Afghanen", sagt Geschäftsführer Sunil Ghai.

"Ein typisches Beispiel", sagt Ruth Pappenhagen, während sie den Steindamm entlanggeht. Überwiegend zeige sich, dass zumindest die Geschäfte mit ausländischen Inhabern in St. Georg mehrere Sprachen ganz pragmatisch einsetzten, um Menschen unterschiedlicher Nationalitäten anzusprechen. Dabei sei das Deutsche fast immer vertreten. "Zumindest sprachlich scheint es hier keine geschlossenen Gemeinschaften zu geben."

Sie stoppt vor dem "Sultan Bazar", einem arabischen Supermarkt. Oben leuchten gelbe Zeichen vor einem blauen Hintergrund, auf Deutsch und Arabisch, darunter locken Äpfel, Orangen und Trauben. Aufmerksam beäugen die Verkäufer, wie Pappenhagen Fotos schießt. "Schüchtern sein darf man natürlich nicht", sagt sie und läuft in den Laden hinein.

Bis zu 300 Aufnahmen kommen zusammen, wenn die Sprachwissenschaftlerin eine Straße wie den Steindamm mit Fotos dokumentiert. Zurück an der Uni fügt sie die Bilder in digitale Karten ein. Das sieht dann so ähnlich aus wie eine Pinnwand, wobei jedes Fotos durch einen Pfeil der Adresse zugeordnet ist, an der es entstand. Die meiste Arbeit macht aber die Übersetzung der vielen Schriftzüge und Zeichen, "das wird Monate dauern", sagt Ruth Pappenhagen und seufzt. Zum Glück kann sie dabei auf die Sprachkenntnisse des LiMA-Teams zurückgreifen, das ähnlich international zusammengesetzt ist wie der Stadtteil St. Georg.

Dann wird die 28-Jährige auch herausfinden, was "Dostana" bedeutet. Das ist Hindi und heißt: Freundschaft.