An den Faultieren des mittelamerikanischen Regenwalds erforschen Biologen die Geheimnisse des Schlafes

Radolfzell. In einem Krankenhaus in Panama-Stadt hat Bryson Voirin einen echten Lacherfolg erzielt. Woher er die tiefe Wunde an der Hand habe, wollte der Arzt wissen. "Ich habe ihm erzählt, dass mir ein Faultier fast den Finger abgebissen hätte", erinnert sich der Biologe und muss im Nachhinein selber grinsen. Von so einem Vorfall hatte noch niemand gehört. Ausgerechnet ein Faultier! Das langsamste und phlegmatischste aller Säugetiere, das sich nur im Zeitlupentempo durch das Kronendach des Regenwaldes bewegt. Kein sonderlich ernst zu nehmender Gegner, so scheint es. Voirin aber weiß es besser. Beim Versuch, die trägen Baumbewohner zu fangen, hat er schon etliche Bisse und Kratzer davongetragen. Doch das ist ihm die Sache wert. Denn er hofft, dass ihn die Faultiere in Panamas Wäldern in die Geheimnisse des Schlafs einweihen werden.

"Der Schlaf ist immer noch eines der größten ungelösten Rätsel der Biologie", erklärt der US-Amerikaner, der am Max-Planck-Institut (MPI) für Ornithologie in Radolfzell am Bodensee arbeitet. Alle Tiere von der Fruchtfliege bis zum Elefanten verbringen einen Teil ihres Lebens in diesem Ruhezustand. Wenn man sie davon abhält, sterben sie. Doch warum? Darauf hat bisher niemand eine endgültige Antwort. Vielleicht braucht der Körper die Auszeit, um sich zu regenerieren, vielleicht kurbelt der Schlaf auch das Immunsystem an oder ist wichtig, damit Informationen im Langzeitgedächtnis gespeichert werden können. "Wir Menschen verschlafen ein Drittel unseres Lebens und wissen nicht, warum", resümiert Voirin.

Er und seine Kollegen wollen mehr Licht ins Dunkel bringen, indem sie das Schlafbedürfnis verschiedener Tierarten untersuchen. Sie versuchen herauszufinden, warum ein Pferd mit zwei Stunden Schlaf pro Tag auskommt, eine Katze aber rund 16 Stunden braucht.

"Im Labor oder im Zoo lässt sich diese Frage nicht richtig beantworten", sagt Martin Wikelski, der das MPI in Radolfzell leitet. Schließlich ist bekannt, dass Tiere in Gefangenschaft oft ganz andere Verhaltensweisen an den Tag legen. Trotzdem stammen fast alle bisherigen Erkenntnisse über den tierischen Schlaf aus Laboruntersuchungen. Denn der Wechsel von Ruhen und Wachen lässt sich am besten an den Gehirnströmen ablesen, die man an der Kopfhaut messen kann. Die dazu nötigen Geräte aber sind normalerweise zu groß, um ein wild lebendes Tier durch seinen Alltag zu begleiten. Erst seit Kurzem gibt es auch Modelle im Miniformat, mit deren Hilfe Bryson Voirin die Geheimnisse des Schlafs nun zum ersten Mal in freier Natur erforschen kann.

Faultiere mit ihrer legendären Langsamkeit und ihrem angeblich exzessiven Schlafbedürfnis schienen sich für diese Premiere geradezu anzubieten. Sobald man das versucht, zeigen sich allerdings die Tücken des Unterfangens. Erst einmal gilt es, die gut getarnten Tiere mit ihrem algenbewachsenen, grünlichen Pelz überhaupt zu entdecken. "Wenn man dann endlich eins gefunden hat, sitzt es natürlich immer auf dem höchsten Baum", sagt Voirin. Also schießt er mit einer Schleuder ein Seil ins Geäst und macht sich daran, einen rund 40 Meter hohen Urwaldriesen zu erklimmen. Irgendwann ist ein Faultier in Reichweite. Wenn er dann den Arm für einen seiner Zeitlupenschritte vorstreckt, schiebt ihm der Forscher eine an einer langen Stange befestigte Schlinge darüber. Vorsichtig zieht er das Tier zu sich hin und klettert mit seinem Fang zurück auf den Boden.

Dort schneidet er das Fell auf dem Kopf Tieres ganz kurz und setzt ihm eine Kappe mit Elektroden auf. Ohne in den Kopf einzudringen, können diese über die Kopfhaut die elektrischen Aktivitäten des Gehirns messen. "Das ist für das Tier vollkommen schmerzlos"; betont der Forscher. Zum Abschluss bekommt der Testkandidat noch ein Sendehalsband umgelegt und wird wieder auf seinen Baum entlassen. Nach zehn Tagen wird Bryson Voirin ihn wieder anpeilen, einfangen und von seinem Mess-Hut befreien. Dann kann er die darin gespeicherten Daten auswerten.

Die so ermittelten Kurven der Gehirnströme zeigen bei Faultieren unterschiedliche Schlafphasen, die so nur bei Säugetieren und Vögeln vorkommen. So versinken die Baumbewohner zeitweise in Tiefschlaf, dann arbeitet ihr Gehirn wieder ähnlich wie im Wachzustand. Dieser leichtere Schlaf, der wegen der damit verbundenen raschen Augenbewegungen Rapid Eye Movement oder kurz REM-Schlaf genannt wird, ist typischerweise mit Träumen verbunden. Und tatsächlich hat Voirin eine Vorstellung, wie die Traumwelt von Faultieren aussehen könnte. "Im REM-Schlaf bewegen sie oft ihren Kiefer", sagt der Forscher. Das könnte bedeuten, dass die Baumbewohner vom Fressen träumen.

Die 25 Tiere, die er bisher untersucht hat, schliefen rund 9,5 Stunden am Tag - satte 6,5 Stunden weniger als ihre Artgenossen im Zoo. Warum? Es könnte sein, dass Feinde die wild lebenden Faultiere nicht zur Ruhe kommen lassen. Doch dafür gibt es bisher keine Hinweise. Vielleicht neigen die Zoo-Faultiere zu längeren Ruhephasen, weil sie keine Nahrung suchen müssen. Oder ihnen fehlt der Kontakt zu Artgenossen. Die nämlich können ein Faultier durchaus aus der Ruhe bringen. Einmal hat Voirin einem schlafenden Männchen das Geschrei eines paarungsbereiten Weibchens vorgespielt. Das riss den Casanova nicht nur aus dem Schlummer, es ließ ihn auch drei Tage lang nicht mehr richtig schlafen.