Biologen haben Bedenken vor Invasion von Pflanzen und Tieren, die auf japanischen Trümmerteilen an pazifischer US-Küste anlanden.

Portland. Wie ein verendeter Wal liegt das Dock in der Agate-Bucht nahe Portland in Oregon. 120 Tonnen Stahl und Beton, 20 Meter lang, sechs Meter breit, zwei Meter hoch: ein Tsunami-Mahnmal von der zerschmetterten Hafenanlage der nordjapanischen Stadt Misawa. Vor einer Woche zog es Tausende Schaulustige in die Bucht, um das traurige Trümmerstück zu bezeugen und für Fotos zu posieren. Nach einem Fußball in Alaska und einem Motorrad in British Columbia, die pazifische Strömungen in 15 Monaten heranschwemmten, dürfte das Dock die auffälligste Vorhut des Trümmerfelds sein, das nach dem Tsunami vom 11. März 2011 auf ein bis zwei Millionen Tonnen geschätzt wird.

Amerikanische Experten erwarten, dass mit den Herbststürmen im Oktober rund fünf Prozent dieses Feldes Alaska, Kanada und die Westküstenstaaten erreichen könnten. Niemand möchte sich vorstellen, wie man damit umgeht, wenn womöglich Hausteile mit Gebeinen der Opfer anlanden. Doch das Dock soll abgewrackt oder abgeschleppt werden; es läuft ein Bieterverfahren.

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Wer am Ende bezahlt, der Bund, die Staaten oder gar Japan, ist ungewiss. Das Schlimmste ist, dass es keinen Schuldigen gibt, gegen den man wüten könnte. Keine TV-Bilder von ölverschmierten Seehunden und Vögeln, keine Warnungen der zuständigen Bundesbehörde NOAA vor Radioaktivität oder giftigen Chemikalien. Es gibt viel Aufräumarbeit und, vielleicht, ein zweites Mal Mitleid mit den Opfern der Katastrophe in Japan.

Was die schaulustigen Pilger in der Agate-Bucht nicht sahen, war die für Laien sonderbar sorgfältig anmutende Reinigung des Docks von Meeresfauna und -flora. Über eine Tonne Seetang, Miesmuscheln, Seesterne, Krebse kratzten Teams von dem Dock und vergruben sie in sicherem Abstand vom Flutwasserstand am Strand. Am Ende wurde das Dock abgefackelt, mit Feuer desinfiziert. Der Grund: Meeresbiologen hoffen, damit eine mögliche japanische Invasion von Getier und Gewächsen zurückzuschlagen, die einheimische Arten überwältigen könnten: "Aussterben wird auch durch Invasionen verursacht", erklärte Prof. John Chapman von der Oregon State University gegenüber der "Washington Post".

Nach einer Studie in dem US-Fachmagazin "Ecological Economics" aus dem Jahr 2004 sind mindestens 400 nordamerikanische Arten vom Aussterben bedroht, weil sie eingeschleppten Arten unterlegen sind. Internationaler Handel und Schiffsverkehr hat längst die natürlichen Barrieren der Arten niedergerissen.

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Zu verhindern ist die unsichtbare Invasion nicht, die durch Sporen und Larven angeführt wird - allein das Misawa-Dock bot Hunderten Millionen Organismen Halt. In der Bucht von San Francisco sind inzwischen mehr als 500 fremde Pflanzen- und Tierarten heimisch geworden; Meeresbiologen sprechen von einem "globalen Zoo". Die meisten Zuwanderer reisten gewissermaßen per Anhalter am Stahlkörper eines Schiffes oder im Ballastwasser ein. Welche Arten anpassungsfähig genug sind, in den amerikanischen Gewässern zu überleben, können nicht einmal die Fachleute exakt vorhersagen.

Die Meeresbiologin Gayle Hansen hat die am Dock in der Agate-Bucht gefundenen Proben untersucht. Etwa die Hälfte, sagt sie, komme auch in einheimischen Gewässern vor. Beim Seetang aber entdeckte sie etwa "Wakame", der als Einlage in der Miso-Suppe wertgeschätzt wird. In der rauen See der Agate-Bucht kann Wakame nicht gedeihen, in der nahen, meist ruhigen Yaquina-Bucht dagegen sehr wohl.

Für Meereswissenschaftler, die sich mit der Migration und Invasion von Arten befassen, ist das Tsunami-Treibgut ein faszinierendes Phänomen. Es zeigt das von der Naturgewalt erzwungene Ende jeder Kontrolle und Vorsicht. Mit Arteninvasionen verhalte es sich wie mit Krebserkrankungen beim Menschen: Früherkennung sei der erste Schutz und die beste Gegenwehr.

Die Belagerung der US-Westküste durch Tsunami-Trümmer hat erst begonnen. In den kommenden beiden Jahren will die kalifornische Umweltgruppe Heal the Bay einmal im Monat entlegene Strände im Großraum von Los Angeles auf japanisches Treibgut untersuchen.

Vor Kurzem lief außerdem in Japan die "Sea Dragon" mit einer Besatzung von Umweltaktivisten und Wissenschaftlern in Richtung Hawaii aus. Das Team will nördlich von Hawaii durch das Trümmerfeld kreuzen, es dokumentieren und anhand von Strömungskarten sein mutmaßliches Anlanden an der Westküste errechnen. Die Aufgabe ist nicht weniger gewaltig als der Versuch, die Arteninvasion aus Japan zu bekämpfen. Experten schätzen das Seegebiet, in dem die Trümmerfelder treiben können, auf die dreifache Größe der kontinentalen Vereinigten Staaten.