Stammzellen sind noch auf keine besondere Aufgabe festgelegt und könnten Krankheiten heilen, sagen Forscher. Der große Durchbruch gelang bisher nicht.

Berlin. Grauenhafte Mischwesen würden geschaffen, warnten die einen. Etliche Krankheiten könnten geheilt werden, prophezeiten andere. Eingetreten ist weder das eine noch das andere, zeigt sich heute, zehn Jahre nach der Verabschiedung des Deutschen Stammzellgesetzes. "Die Schimäre aus Affe und Mensch ist ein theoretisches Modell geblieben", sagt der Stammzellforscher Prof. Jürgen Hescheler von der Universität Köln. "Andere Befürchtungen haben sich als ebenso haltlos erwiesen." Andererseits ist die Forschung von den einst hochgesteckten Zielen noch weit entfernt. Der Glaube an das medizinische Potenzial von Stammzellen jedoch ist ungebrochen: Es habe sich als sinnvoll herausgestellt, die Forschung zu vertiefen, sagt etwa Prof. Oliver Brüstle von der Uni Bonn.

Als es in den 1990er-Jahren gelang, menschliche embryonale Stammzellen (ES) im Labor zu züchten, kam Euphorie auf. Denn diese Zellen gelten als Multitalente: Sie sind noch nicht für eine spezielle Aufgabe im Körper programmiert und können sich in jede menschliche Zelle verwandeln - prinzipiell, wohlgemerkt. Weil man aus ihnen Ersatzgewebe für kranke Körperteile züchten könnte, so die Hoffnung vieler Forscher, seien embryonale Stammzellen ein vielversprechendes Mittel, um Krankheiten wie Alzheimer oder Leukämie besser zu behandeln. Weil die Zellen vor allem aus Embryonen gewonnen werden, die bei künstlichen Befruchtungen übrig bleiben und danach zerstört werden, war das Verfahren aber von Anfang an umstritten.

Das am 25. April 2002 mit großer Mehrheit im Bundestag verabschiedete Stammzellgesetz verbietet die Züchtung embryonaler Stammzellen in Deutschland, erlaubt aber den Import - unter strengen Auflagen. Nach der ersten Gesetzesfassung durften Forscher nur Stammzelllinien importieren, die bis zum 1. Januar 2001 gewonnen wurden. 2008 wurde der Stichtag auf den 1. Mai 2007 verschoben, weil Wissenschaftler die alten Stammzellen inzwischen für ungeeignet für die Forschung hielten. Seit 2002 haben 70 Forschungsinstitute und Privatunternehmen vom Robert-Koch-Institut (RKI) eine Genehmigung zur Einfuhr dieser Zellen erhalten. Zwei Anträge seien seit 2002 abgelehnt worden, teilte das RKI gestern auf Nachfrage mit. Einen sprunghaften Anstieg der Anträge habe es seit der Stichtagsänderung gegeben.

Embryonale Stammzellen erwiesen sich allerdings bis heute als widerspenstig, weil sie sich nicht immer in die Zellen verwandeln, zu denen sie sich nach den Vorgaben der Forscher entwickeln sollen. Deshalb setzen immer mehr Stammzellforscher auf eine Alternative, die 2006 von den Japanern Kazutoshi Takahashi und Shinya Yamanaka präsentiert wurde: induzierte pluripotente Stammzellen (iPS). Das sind beliebige Körperzellen, die durch eingeschleuste Steuerungsgene in pluripotente Stammzellen umprogrammiert werden. Damit lassen sich ebenfalls Zellen für Ersatzgewebe züchten - dafür muss aber kein Embryo hergestellt und zerstört werden. Zwar birgt die Methode Risiken, weil für das Einschleusen der Gene Viren nötig sind. Doch deutschen Forschern ist es bereits gelungen, ohne Gene auszukommen.

"Ich habe das Labor damals in weiten Teilen umstrukturiert, weil mir klar war: Das ist eine Revolution, ein neuer Baustein in der Stammzellforschung, auf den man nicht verzichten kann", erzählt Oliver Brüstle von der Universität Bonn. Vor allem für Krankheitsmodelle hätten iPS-Zellen entscheidende Vorteile, erläutert Tobias Grimm, Programmdirektor in der Gruppe Lebenswissenschaften bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft. "Wenn man verstehen möchte, wie sich eine auf mehreren Genveränderungen beruhende Erbkrankheit ausbildet, lassen sich dafür sehr elegant aus einzelnen Haut- oder Blutzellen Stammzellen machen."

Oliver Brüstle zufolge haben die iPS-Zellen allerdings auch einen Nachteil: Sie seien genomisch so alt wie der Körper, dem sie entnommen wurden. "Wenn sie eine Haut- oder Blutzelle eines 50 Jahre alten Patienten reprogrammieren, dann trägt diese iPS-Zelle alle Mutationen, die sich im Lauf des Alterungsprozesses natürlicherweise angehäuft haben." Mit diesen Schäden erhöhe sich das Risiko etwa für Krebs.

+++ Stationen der Stammzellforschung +++

Als Meilenstein gilt in der Forschergemeinde ein neues Verfahren, bei dem im Labor Körperzellen direkt - ohne Umweg über pluripotente Zellen - in einen anderen Zelltyp verwandelt werden. "Das wird möglicherweise in Zukunft die Methode der Wahl sein", sagt DFG-Experte Grimm. Langfristig könnte die direkte Umwandlung womöglich im Körper angewendet werden. "Auch da gibt es schon erste Studien", sagt Brüstle. So habe ein US-Team einen Zelltyp in der Bauchspeicheldrüse in Insulin bildende Zellen umgewandelt. Die am längsten erforschten, aber eben widerspenstigen embryonalen Stammzellen wurden bereits in ersten klinischen Studien getestet. In den USA und in Großbritannien bekamen Patienten mit bislang unheilbaren Augenerkrankungen retinale Pigment-Epithelzellen ins Auge gespritzt, die aus humanen ES-Zellen abgeleitet wurden. Erste Daten weisen darauf hin, dass sich die Zellen einnisten und die Anwendung sicher ist. Eine US-Studie mit ES-Zellen zur Behandlung von Querschnittgelähmten dagegen wurde gestoppt. Als Grund gab das Biotechnikunternehmen Geron wirtschaftliche Erwägungen an. Von klinischen Studien mit iPS-Zellen am Menschen sind Forscher noch weit entfernt.

In Deutschland verlaufe die Diskussion inzwischen sachlicher, allerdings sei mit dem Stammzellgesetz eine enorme Bürokratie aufgebaut worden, sagt Prof. Jürgen Hescheler von der Universität Köln. Viele Jungforscher hätten sich deshalb für eine Karriere im Ausland entschieden. Ganz ohne Nachwuchs muss das Feld in Deutschland aber nicht auskommen - das zeigt auch die 70. Genehmigung des RKI für ein ES-Forschungsprojekt. Axel Methner, Professor für Neurologie am Universitätsklinikum Düsseldorf, möchte mit embryonalen Stammzellen die neuromuskuläre Erkrankung Morbus Charcot-Marie-Tooth erforschen. "Für mich ist das Ziel, ein besseres Modellsystem zu haben, um verstehen zu können, was schiefgeht", sagt Methner. "Dann kann ich mir überlegen, wie man das reparieren könnte." Die embryonalen Stammzellen dienten dabei hauptsächlich als Positivkontrolle - und würden künftig eventuell auch verzichtbar. "Das ist der Weg, den man gehen muss."