Oliver W., das erste deutsche Retortenbaby, wird heute 30 Jahre alt. Seit 1982 sind in Deutschland so etwa 150.000 Kinder entstanden.

Erlangen. Als Oliver W. am 16. April 1982 im Universitätsklinikum Erlangen per Kaiserschnitt zur Welt kam, war seine Geburt eine Sensation: Der kleine Junge, 4150 Gramm schwer, war das erste deutsche Retortenbaby, wie es damals hieß. Er war durch eine künstliche Befruchtung in der Petrischale entstanden. Viel mehr erfuhr man damals vor 30 Jahren nicht über das Kind, denn seine Eltern aus Langensendelbach in Oberfranken hatten der Klinik strenge Zurückhaltung verordnet. Auch heute ist über den pressescheuen Mann nur bekannt, dass er Installateur geworden ist.

Weltweit war Oliver das fünfte Kind, das nach einer sogenannten In-Vitro-Fertilisation (IVF) das Licht der Welt erblickte. Das erste war Louise Brown, die im Juli 1978 im englischen Oldham geboren wurde. Weltweit sollen nach Schätzungen seitdem mehr als drei Millionen Kinder durch künstliche Befruchtung entstanden sein, in Deutschland sind es etwa 150 000.

Doch als Oliver W. zur Welt kam, herrschte lange nicht überall Jubelstimmung. Viele Menschen waren empört. "Feministinnen haben uns das Haus eingerannt, und auch der Vatikan war dagegen", sagte der behandelnde Arzt Siegfried Trotnow später im Rückblick. Sogar Morddrohungen trafen in der Klinik ein.

+++Auch unbefruchtete Eizellen können jetzt eingefroren werden+++

+++Vom komplizierten Sexual-Zyklus der Pandabären+++

"Heute ist künstliche Befruchtung vollkommen akzeptiert", urteilt Ralf Dittrich, wissenschaftlicher Leiter der Reproduktionsmedizin am Uniklinikum Erlangen. "Das ist heute auch kein Tabuthema mehr." Mittlerweile erzählten Paare ganz offen im Bekanntenkreis, dass sie sich einer In-Vitro-Fertilisation unterziehen. Dabei werden der Frau reife Eizellen entnommen, im Labor mit Spermien befruchtet und anschließend wieder eingepflanzt.

Auch medizinisch hat sich in 30 Jahren einiges geändert. "Früher wurden die Eizellen mittels einer Bauchspiegelung entnommen", erläutert Reproduktionsmediziner Jan-Steffen Krüssel, der das Kinderwunschzentrum Unikid an der Uniklinik Düsseldorf leitet. "Heute kann man sie sich per Sonde ansehen und dann mit einer Nadel durch die Scheide entnehmen." Ein weiterer bedeutender Fortschritt besteht darin, dass nun auch Paaren geholfen werden kann, bei denen der Mann nur eingeschränkt fruchtbar ist, was in etwa der Hälfte aller Fälle so ist. Meist hat der Betroffene dann zu wenige oder zu unbewegliche Spermien. Während man vor 30 Jahren etwa 150 000 gesunde, "zappelnde" Spermien pro Eizelle für eine Reagenzglasbefruchtung benötigte, reicht heute ein einziges "lahmes" Spermium aus: Bei der sogenannten Intracytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) wird die Eizelle durchstochen und das Spermium direkt in die Eizelle platziert.

Die Aussichten, mithilfe einer künstlichen Befruchtung schwanger zu werden, sind gut: "Bei jungen Frauen unter 30 liegen die Erfolgschancen bei 40 Prozent pro Zyklus", sagt Krüssel. Das sei sogar besser als bei einer natürlichen Empfängnis, bei der die Aussichten bei höchstens 30 Prozent pro Zyklus lägen. Allerdings nehmen die Aussichten mit steigendem Alter der Frau deutlich ab: So hat eine 45-Jährige nur noch eine fünfprozentige Aussicht, schwanger zu werden.

Ihren Höhepunkt erreichte die künstliche Befruchtung in Deutschland im Jahr 2003 mit fast 106 000 Behandlungen, wie im Jahrbuch des Deutschen IVF-Registers (www.deutsches-ivf-register.de) nachzulesen ist. Mit der Einführung der Gesundheitsreform im selben Jahr brachen die Zahlen 2004 auf knapp 60 000 Behandlungen ein. "Seit 2004 müssen die Paare die Hälfte der Behandlungskosten selbst tragen, und das sind 1200 bis 1500 Euro pro Zyklus", sagt Krüssel. Mittlerweile steigen die Zahlen wieder langsam an: Im Jahr 2010 gab es knapp 76 000 künstliche Befruchtungen.

Nach Lehrmeinung der katholischen Kirche bleibt das Verfahren der künstlichen Befruchtung nach wie vor unmoralisch. Die Vergabe des Medizin-Nobelpreises 2010 an den Erfinder der In-Vitro-Fertilisation, den Briten Robert Edwards, wies ein Vatikansprecher als "deplatziert" zurück. Problematisch ist aus Sicht vieler Theologen vor allem, dass in einigen Fällen mehr befruchtete Eizellen erzeugt als in die Gebärmutter eingepflanzt werden.

In Deutschland regelt das Embryonenschutzgesetz die künstliche Befruchtung. Die Verwendung des Embryos zu anderen Zwecken als zur Herbeiführung einer Schwangerschaft ist ebenso verboten wie Leihmutterschaft oder Klonen.

Die anfängliche Befürchtung, dass mit künstlicher Befruchtung gezeugte Kinder erblich belastet sein könnten, hat sich medizinisch nicht bestätigt: "Die Missbildungsrate ist so leicht erhöht, dass sie medizinisch nicht relevant ist", sagt Ralf Dittrich. Zudem könne das auch daran liegen, dass die Paare in der Regel älter seien. Schließlich sei auch die Missbildungsrate bei natürlich gezeugten Kindern älterer Paare erhöht. Und mit IVF gezeugte Kinder sind offenbar auch nicht weniger fruchtbar: Das weltweit erste Retortenbaby Louise Brown und ihre ebenfalls durch künstliche Befruchtung gezeugte Schwester Natalie sind jedenfalls beide auf natürlichem Weg Mutter geworden.