In vielen Kinderzimmern findet das Ritual des Vorlesens nicht mehr statt. Wir wollen das ändern und sammeln “Geschichten vor dem Einschlafen“.

Hamburg. Es war einmal Arne Ulbricht. Er konnte es nicht erwarten, seinem achtjährigen Lasse jeden Abend eine Geschichte vorzulesen. Vater und Sohn setzten sich also daheim aufs Bett, machten es sich gemütlich und tauchten dann ein in die Welt von Räuber Hotzenplotz, Jim Knopf und dem lustigen Sams.

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Arne Ulbricht gibt es wirklich. Er lebt in Wuppertal, arbeitet in Teilzeit als Lehrer und schreibt Romane und Erzählungen. Als Vater, sagt er, sei er manchmal "auf furchterregende Weise ungeduldig". Er schnauze seine Kinder auch schon mal an. Und wenn Sohn oder Tochter hinfallen und heulen, sagt er: "Steh auf, war doch nicht so schlimm!"

Aber wenn er in 20 Jahren seinen 60. Geburtstag feiert und sein Sohn dann eine Rede halten sollte, könnte es sein, dass der Filius sagt: "Papa hat ja oft genervt und geschimpft - aber er hat mir jahrelang abends vorgelesen."

Arne Ulbricht nennt sich selbst, augenzwinkernd, einen Vorleseaktivisten. Er gehört zu einer verschwindend kleinen Minderheit im Lande. Väter, die vorlesen, sind in etwa so häufig wie Vampire, die kein Blut sehen können. Die Statistik ist traurig: Nur acht Prozent der Väter in Deutschland lesen ihren Kindern abends regelmäßig eine Gute-Nacht-Geschichte vor. Sie unterlassen das Lesen, so ergab eine Umfrage, aus drei Gründen: Die Zuständigkeit liege a) bei der Mutter, es fehle b) die Zeit, und es mache c) keinen Spaß.

Na dann gute Nacht, möchte man sagen, wenn man weiß, dass sich 90 Prozent der Kinder wünschen, abends im Bett noch eine oder besser gleich drei bis vier Geschichten vorgelesen zu bekommen. Die Realität in deutschen Kinderzimmern sieht anders aus: 42 Prozent der deutschen Eltern lesen ihren Kindern nur gelegentlich oder nie vor. Und in einer Umfrage der Stiftung Lesen gaben vor vier Jahren 37 Prozent der Kinder an, dass ihnen weder im Elternhaus noch im Kindergarten oder in der Grundschule etwas vorgelesen wird.

Wenn das wirklich stimmt, werden diese Kinder nie in den Besitz einer geheimnisvollen Flaschenpost gelangen, in der ein riesengroßer Schatz versteckt ist - die Fantasie.

Sie werden nie erleben, wie es ist, wenn sich das Kinderzimmer Abend für Abend in einen magischen Raum verwandelt. Wenn Geschichten plötzlich Flügel wachsen. Wenn man eng angekuschelt an Mama oder Papa mit großen Kulleraugen eine spannende Reise antritt. Zu Rittern und Räubern, Zauberern und Elfen, Wassermännern und Gespenstern, Tigern und Teddys. Wenn sich furchterregende Fabelwesen und listige Kerle gegenüberstehen.

Wenn Gefahren drohen, Geheimnisse entschlüsselt werden und Freundschaften allesallesalles überstehen. Und wenn die kleine Büchermaus, wie von Rolf Zuckowski besungen, ganz alleine auf die Reise geht, "ohne Strümpfe, ohne Schuh, sie braucht nur ein Buch dazu".

Es sind Reisen, die schlau machen. "Wenn Eltern ihren Kindern regelmäßig vorlesen, dann investieren sie sehr viel in die Zukunft und in die Kompetenzen ihres Kindes", sagt Simone Ehmig, Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung und Mitautorin der Vorlesestudie 2011 von der Stiftung Lesen. Deren Geschäftsführer Jörg Maas stellt klar: "Ohne Lesen keine Bildung. Ohne Bildung keine Ausbildung. Ohne Ausbildung keinen Beruf."

Die empirisch fundierte Studie hat einen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem Vorlesen in der Kindheit und dem späteren Leseverhalten aufgezeigt. Und bestätigt damit Goethe. "Vorlesen ist die Mutter des Lesens", wusste schon der deutsche Dichter. Je häufiger, desto besser. Man kann auch sagen: Die früh erfahrene Lese-Liebe hält bei sehr vielen ein Leben lang. Und außerdem fördere das Vorlesen die Freude an der Bewegung und musisch-kreative Aktivitäten, die Entwicklung der Sprache und die Konzentration. Das Fazit der Experten: Tägliches Vorlesen sei nicht etwa nur eine nette Zugabe in der Erziehung, sondern ein "zentraler Impuls für die Kompetenzentwicklung des Kindes in ganz unterschiedlichen Bereichen".

Wissenschaftler der Universität Leipzig wollten wissen, wann sich entscheidet, ob ein Kind ein Leser oder ein Fernsehgucker wird. Wichtiger als der Bildungsgrad der Eltern sei, welche emotionale Beziehung ein Kind in den ersten sechs Lebensjahren zu Büchern entwickle. Ihr Fazit: "Wenn Eltern mit Vergnügen vorlesen und dabei mit den Kindern kuscheln, bewahrt sich diese Freude am Lesen ein Leben lang."

Das Kuscheln ist auch für Christine Kranz, 54, ein ganz wichtiges Argument für das abendliche Vorlesen. "Dabei entsteht nicht nur Nähe im räumlichen, sondern auch im emotionalen Sinn", sagt die Referentin für Leseförderung der Stiftung Lesen. "Kinder öffnen sich beim Vorlesen und erzählen plötzlich, was sie bedrückt oder wovor sie am Tag Angst gehabt haben." Eltern, die nicht vorlesen, würden damit eine wichtige Möglichkeit aus der Hand geben, ganz viel von ihren Kindern zu erfahren.

Wann aber wird das Bilderbuch in Papierform nur noch ein Relikt aus guten, alten Zeiten sein? Ein Märchen-Buch, sozusagen? Vor einigen Monaten feierte das "Schlaf-gut-App", ein virtuelles Einschlafbuch für Kinder, große Erfolge: Bestverkaufte Buch-App in Deutschland und Amerika, Platz eins auch in Italien und Australien. 2,39 Euro kostet die iPad-Version, auf der die Kinder per Fingerdruck Tiere und Menschen auf einem Bauernhof ins Bett bringen können.

Die Idee dazu hatte Heidi Wittlinger, Designerin und Mutter einer zweijährigen Tochter. Sie weiß, dass Kinder Rituale brauchen. Abendessen, Zähneputzen, Vorlesen, Gute-Nacht-Lied. Und sie weiß, dass das Einschlafen oft ein Problem ist. "Und mit der App kann man sagen: Guck mal, die Tiere gehen jetzt auch schlafen."

Eine Gefahr für die Lesekultur sieht Dirk Zorn von der Stiftung Lesen in den Apps nicht. "Wir sehen hier vor allem ein riesiges pädagogisches Potenzial. Das Vorlesen kann im Idealfall zum Event werden. Eine gute App liefert neben der Geschichte auch Ideen, wie man sie weiter umsetzen kann - zum Beispiel mit Bildern, einem Puzzlespiel oder passenden Liedern."

Es klingt wie ein Märchen, ist aber wahr: In Hamburg wird im Sommer ein großartiges Jubiläum gefeiert. Dann wird nämlich die 100 000. Buchstart-Tasche in einer Kinderarzt-Praxis der Stadt an ein Kleinkind im Alter von einem Jahr übergeben. Das bundesweit einmalige Projekt zur frühkindlichen Leseförderung startete Anfang 2007. "Es geht darum, dass Eltern zusammen mit ihren Kindern erstmals mit Büchern in Berührung kommen können", sagt Annette Huber, Projekt-Mitarbeiterin der ersten Stunde.

Im Rahmen der Routineuntersuchung U 6 überreichen die 140 Kinderärzte seitdem pro Jahr rund 18 000 Taschen mit zwei Bilderbüchern sowie Infomaterial und einem Gutschein für eine einjährige Junior-Mitgliedschaft bei den Hamburger Bücherhallen. 220 000 Euro lassen sich Hamburg und einige Sponsoren diese ganz spezielle Leseförderung pro Jahr kosten. Erste Evaluationsergebnisse haben gezeigt, dass 90 Prozent der Eltern die Bücher noch in Gebrauch haben. Und dass sie nun pro Tag 4,5 Minuten länger (jetzt 16,6 Minuten) und pro Woche 3,3-mal häufiger (jetzt 10,9-mal) mit ihren Kindern zum Buch greifen. Und: Buchstart-Kinder sprechen mit zwei Jahren mehr als doppelt so viele Wörter wie Kinder aus einer Kontrollgruppe, in der es das Projekt nicht gibt.

Für Arne Ulbricht ist das gar nicht so wichtig. "Dass das Vorlesen so viele Fähigkeiten fördert, ist ja schön", sagt er. "Aber genau genommen ist es das Letzte, was mir durch den Kopf geht, wenn ich abends zum Buch greife." Ulbricht denkt vor allem "an das Gefühl der Freiheit, sobald ich das Kinderzimmer betrete". Wenn er sein Handy draußen lässt. Keine E-Mails, keine heimlichen SMS, keine abschweifenden Gedanken an noch zu erledigende Arbeiten. Es gibt dann 45 Minuten lang nur die Tochter, den Sohn, den Vater und die Bücher.

Die Gute-Nacht-Geschichte quasi als Anti-Stress-Programm. Genau diesen Rat hat Adrienne Hinze von der Arbeitsgemeinschaft der Jugendbuchverlage: "Der Trick ist, das Lesen für sich selbst als Auszeit zu betrachten."

Das sieht nicht jeder so. In Amerika entwickelte sich ein kleiner Bildband für Eltern schlafunwilliger Kinder zum Überraschungserfolg. "Verdammte Scheiße, schlaf ein", so der deutsche Titel, von Adam Mansfeld trifft wohl ein Gefühl von vielen Eltern. Mansfeld glaubt, dass der Erfolg des Büchleins mit Ehrlichkeit zu tun hat. Wenn Eltern verzagen, weil die Kleinen immer noch eine Geschichte wollen. Und noch eine und noch eine.

"Wie niederschmetternd ist es", sagt Mansfeld, Vater einer Tochter, "wenn sie endlich schläft und man wagt, ganz leise aus ihrem Zimmer zu schleichen. Und plötzlich hörst du ihr Stimmchen: 'Papa, wohin gehst du?' Und du bist wieder bei null."

Man sollte Adam Mansfeld sein Alter von 34 Jahren zugute halten. 20 Jahre später wird er wissen, dass es in seinem Leben nicht viele schönere Sätze geben wird.