Internationales Projekt unter Beteiligung von Hamburger Biologen will die Evolution der artenreichsten Tiergruppe besser verstehen.

Hamburg. Mit einer Million beschriebener Arten sind die Insekten die artenreichste Tiergruppe der Erde. Doch über die evolutionäre Entwicklung vieler Spezialisten zwischen Baum und Borke, in der Luft und in Böden, in Fellen, auf Blättern und Blüten ist wenig bekannt. Eine internationale Forschungsinitiative, das 1KITE-Projekt, will den noch sehr lückenhaften Stammbaum der Insekten jetzt mit Leben füllen. Daran beteiligt sind Entomologen (Insektenkundler) der Universität Hamburg.

Im Februar fiel der Startschuss zur weltweit größten gemeinsamen Insektensammlung, durchgeführt von einem 50-köpfigen Wissenschaftlerteam aus Australien, China, Deutschland, Japan, Mexiko, Österreich und den USA. Den europäischen Beitrag koordiniert das Forschungsmuseum Koenig in Bonn, in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern der Universitäten Bonn, Jena und Hamburg (inklusive Zoologisches Museum) sowie des Staatlichen Museums für Naturkunde in Stuttgart. Das Heidelberger Institut für Theoretische Studien (HITS) übernimmt die Auswertung der entstehenden Datensammlung, schreibt die Software, mit deren Hilfe später ein Supercomputer wichtige Teile des Stammbaums errechnen wird.

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Die Basis dafür liefern genetische Untersuchungen am Bejing Genomics Institute in Shenzen (China). "Dort wird aus den Proben, die die Spezialisten für verschiedene Insektengruppen aufbereitet haben, mit modernsten Verfahren das Erbgut einzelner Arten analysiert", sagt Dr. Frank Friedrich vom Biozentrum Grindel, der zusammen mit Kai Schütte, Kurator für Insekten am Zoologischen Museum, den Hamburger Beitrag leistet.

Die chinesischen Molekularbiologen sollen im ersten Schritt das Erbgut von 100 Arten untersuchen. Anschließend soll das Projekt auf 1000 Arten erweitert werden. "Wir widmen uns zunächst jeweils etwa drei Vertretern der 30 Großgruppen wie Heuschrecken, Köcherfliegen, Flöhen oder Zikaden. Anhand der 100 Arten muss sich zeigen, ob die weltweit einheitliche Probenaufbereitung, die Logistik zwischen den beteiligten Instituten und vor allem die Auswertung der riesigen Datenmenge in Heidelberg funktionieren", sagt Friedrich. "Im nächsten Schritt sollen dann ein bis zwei Vertreter der nächst kleineren Einheiten, der Insektenfamilien, genetisch untersucht werden. Wir kommen dann auf insgesamt 1000 Arten. Sie sollen uns das Grundgerüst der verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Insektengruppen liefern."

Zwar gebe es bereits stichprobenartige genetische Untersuchungen mit der angewandten Methode (EST-Sequenzierung), sagen die beiden Zoologen, doch wurden dort maximal zehn, vielleicht zwölf Arten miteinander verglichen - angesichts der Millionen Insektenarten nicht viel mehr als ein Fliegenschiss. Deshalb basiert ein Großteil des heutigen Wissens über die Insektenwelt auf der Morphologie, der Formenlehre. Aber dieser Ansatz, die Insekten anhand ihrer Körpermerkmale zu klassifizieren, führt manchmal in die Irre. Denn viele Tiere sehen fast gleich aus, gehören aber Arten an, die nicht nah verwandt sind.

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Kai Schütte nennt als Beispiel die Gottesanbeterinnen. Sie bilden eine vergleichsweise übersichtliche Ordnung mit bislang rund 2400 bekannten Arten. "Diejenigen, die im Gras leben, haben eine schlanke Form. Arten, die an Baumstämmen auf Beute lauern, ähneln dagegen Flechten. Durch dieselbe Lebensweise gleichen sich die Tiere, sind aber unabhängig voneinander entstanden. Das Projekt hilft uns zu verstehen, welche Ähnlichkeiten auf dieselbe Lebensweise zurückzuführen sind und welche auf die Abstammung." Schwierig wird es auch bei den Höhlenbewohnern. Schütte: "Sie verlieren in der Evolution Farbe, Augen, Flügel. Das führt dazu, dass sie ganz anders aussehen als nahe Verwandte, die außerhalb von Höhlen leben."

Die genetischen Untersuchungen sollen hier Licht ins Dunkel bringen. Doch davor steht die Sammlung des Probenmaterials. Die Entomologen, die von Haus aus an körperlichen Merkmalen ihrer Untersuchungsobjekte interessiert sind, sollen nun ihre frisch gefangenen Tiere schnellst möglich zerkleinert in einer Salzlösung fixieren - "gerade bei seltenen Arten tut es einem weh, das intakte Insekt zu Brei aufzubereiten", sagt Friedrich. Doch genau dies erfordern die molekularbiologischen Untersuchungen. Immerhin wird meist ein unversehrtes Exemplar (bei größeren Körpern ein Teil davon) klassisch in Alkohol oder trocken konserviert und als Beleg für die eingeschickte Art im Zoologischen Museum verwahrt.

Um zu anständigen Ergebnissen zu kommen, benötigen die chinesischen Kollegen jeweils einen Probenumfang, der in etwa dem Körpervolumen einer Biene entspricht. Das ist bei den gut fingergroßen Gottesanbeterinnen kein Problem, bei Flöhen oder Läusen schon. "Da brauchen wir um die 100 Tiere", sagt Friedrich. "Bei Pflanzensaft saugenden Läusen ist das meist gut zu schaffen, weil die in Massen vorkommen. Aber bei parasitären Tieren wie Kopfläusen oder auch bei Bücher- oder Staubläusen ist es nicht einfach, entsprechend viele Tiere zu sammeln." So waren die Hamburger Insektenkundler unter anderem auf einem Geflügelhof unterwegs, um die dortigen Hühner zu entlausen. Dabei muss fein differenziert werden - Friedrich: "An den Flügeln lebt eine andere Läuseart als an den Beinen, und am Rücken gibt es eine dritte Art."

Die Hamburger Zoologen sammeln seit Herbst, neben Flöhen auch Köcherfliegen, Wanzen, Zikaden und andere Sechsbeiner. Die gesammelten, zum Teil auch aus Zuchten zugelieferten Proben werden alle paar Wochen zum Bonner Museum Koenig geschickt und dort weiter aufbereitet. Schließlich gehen sie zusammen mit anderen europäischen Proben nach Peking.

Schütte und Friedrich freuen sich bereits auf den spannenden Moment, wenn, vielleicht in einigen Monaten, anhand der ersten 100 Arten ein fragmentarischer Stammbaum auf Basis der genetischen Strukturen heranwächst, angereichert mit rechnerisch ermittelten Wahrscheinlichkeiten der jeweiligen Verwandtschaftsbeziehungen der Arten. Schütte: "Dann werden wir den Abgleich machen mit den Erkenntnissen aus der Morphologie und dem neuen Stammbaum die Merkmale der einzelnen Arten zuordnen."