Teil 9: Kopfschmerzen Die Zahl der Betroffenen hat sich in den letzten Jahren verdreifacht. Vielen Kindern fehlt die Zeit zum Ausspannen

Eigentlich ist Tim mit zwölf Jahren ja schon zu groß für Stofftiere. Aber sein hellblauer Delfin ist trotzdem etwas ganz Besonderes für ihn. Er symbolisiert das Ende der Schmerztherapie, die Tim in den letzten zwölf Monaten absolviert hat. "Jetzt habe ich meine Kopfschmerzen im Griff und weiß, dass ein geregelter Tagesablauf wichtig für mich ist", sagt der Siebtklässler mit dem Lausbubengesicht aufgeweckt. Delfin-Kids heißt das Programm, das von dem Hamburger Kinderneurologen Dr. Raymund Pothmann entwickelt wurde. Seine Botschaft an die Kinder: Die eigene Lösung finden, werdet Delfin-Kids!

Bis vor einem halben Jahr hatte Tim fast täglich starke Kopfschmerzen. In der Schule hatte er 35 Fehltage in nur vier Monaten. Begonnen hatte alles mit einem Infekt. Da war Tim zehn Jahre alt. Zu Schniefnase und Halsweh gesellten sich auch heftige Kopfschmerzen. Die Erkältungssymptome verschwanden nach einigen Tagen, das Kopfweh blieb. "Manchmal war mir auch übel", sagt Tim. Die Kinderärztin fragte nach Fernsehgewohnheiten, Stressfaktoren und Schulsituation. Doch sie fand nichts, was Tims Leiden erklärte. Außer vielleicht, dass sich der Junge alles sehr zu Herzen nimmt. "Ich bin ehrgeizig, möchte immer alles gut machen", sagt der Zweierschüler, der bei den Jungpfadfindern mitmacht, Kung-Fu trainiert, Posaune spielt und gerne klettert. Er reduzierte seine Aktivitäten, doch das Hämmern im Kopf hörte nicht auf.

Kopfschmerzen haben sich mittlerweile zur häufigsten Störung im Kindesalter entwickelt. Die Anzahl der Betroffenen hat sich in den letzten 30 Jahren verdreifacht. Fachleute machen dafür einen veränderten Lebensstil der Kinder verantwortlich. Schulstress, Mobbing, Probleme in der Familie, Schlafmangel und stundenlanges Fernsehen oder Computerspielen können genauso Kopfweh auslösen wie koffeinhaltige Limonade oder Lebensmittelzusätze. Je älter Kinder werden, desto häufiger leiden sie an Kopfschmerzen. Nicht selten klagen schon Vierjährige darüber.

Im Vorschulalter treten die Beschwerden bei zehn Prozent der Kinder auf, in den ersten drei Grundschuljahren steigt die Häufigkeit schon auf etwa 80 Prozent. Knapp zwei Drittel dieser Kinder leiden unter Spannungskopfschmerzen, zehn Prozent klagen über die wesentlich stärkere, oft von Erbrechen begleitete Migräne. Die meisten Kinder haben nur ab und zu Kopfweh, doch bei vielen wird es zum Dauerzustand. "Etwa zwei Millionen Schulkinder haben behandlungsbedürftige Kopfschmerzen", sagt Kinderneurologe Pothmann. "Bei den meisten sind Stress und Überforderung die Ursache." Ihnen fehle unverplante Zeit - zum Spielen und Ausspannen. Stattdessen säßen sie vor Computer und Fernseher. Kein ungefährliches Vergnügen: "Schon bei drei Stunden pro Tag sinkt die Lebenserwartung", warnt Pothmann, "allein wegen des damit verbundenen Bewegungsmangels und seiner Folgen."

Eltern sollten mit ihren Kindern zum Arzt gehen, wenn die Kopfschmerzen über einen Zeitraum von drei Monaten häufig auftreten, das Kind belasten und zu einem Leistungsabfall in der Schule führen. Je früher Kinder behandelt werden, desto eher kann man vermeiden, dass sie auch als Erwachsene darunter leiden.

"Bei Kindern mit Kopfschmerzen muss durch verschiedene Untersuchungen ausgeschlossen werden, dass ernsthafte Erkrankungen die Ursache sind", sagt Kinderärztin Editha Halfmann, die mit ihrer Kollegin Dr. Grit Handrich eine Praxis in Wellingsbüttel betreibt. Zunächst müssen Blut- und Stuhluntersuchungen klären, ob eine Nahrungsmittelunverträglichkeit vorliegt. Dann müssen die Kinder zu Augen-, HNO-Arzt und Kieferorthopäden, denn auch eine Fehlsichtigkeit, verschiedene Infekte, eine Zahnfehlstellung oder eine feste Zahnspange können Kopfschmerzen verursachen. Ein Neurologe sollte hinzugezogen werden, um auszuschließen, dass ein Tumor Ursache ist.

"Auch Probleme unter der Geburt können verantwortlich sein", sagt Editha Halfmann. "Sie können zu Blockaden am Übergang vom Kopf zur Wirbelsäule führen." Die Kinder könnten den Kopf nicht richtig drehen und später Kopfschmerzen bekommen. Stellen die Ärztinnen, die Zusatzausbildungen zur manuellen Therapeutin haben, bei ihren kleinen Patienten eine solche Blockade fest, versuchen sie, mit sanften Techniken den obersten Halswirbelkörper an die richtige Stelle zu schieben und die Blockade zu lösen.

Auch Tim ließ all diese Untersuchungen über sich ergehen. Er bekam eine Brille, eine Kauleiste für die Nacht und eine osteopathische Therapie, aber die Kopfschmerzen ließen nicht nach. Nach einem halben Jahr kam er ins Krankenhaus. Weitere Untersuchungen folgten - ohne Resultat. Mit einer Punktion des Rückenmarkskanals wurde er auf Hirnhautentzündung überprüft. Auch hier war das Ergebnis negativ, die Kopfschmerzen aber verschlimmerten sich. "Sie traten fast täglich auf und waren kaum zu ertragen", sagt Tim.

Kurz darauf kam Tim zu Doktor Pothmann. Auf dessen Wunsch führte er ein Kopfschmerztagebuch. Das dient dem Arzt als Dokumentation und hilft den kleinen Patienten zu erkennen, dass nicht jeder Tag Schmerzen bringt. "So entspannen sie sich", sagt der Kinderneurologe.

"Zehn bis 15 Prozent der Kinder brauchen danach keine Behandlung mehr." Sein Ziel sei es, die Kinder so weit fit zu machen, dass sie mit den Kopfschmerzen besser fertigwerden. Oft könnten einfache Lösungen akute Schmerzen vertreiben - ausreichend Schlaf, Bewegung an der frischen Luft, Pfefferminzöl auf Stirn und Nacken. Wirkt das nicht, empfiehlt Pothmann Schmerzmittel wie Ibuprofen oder Paracetamol in kindgerechter Dosierung. Bei Migränekindern mit mehr als drei Anfällen im Monat könne vorbeugend mit höher dosiertem Magnesium oder Pestwurzextrakt begonnen werden.

Tim lernte in der Schmerztherapie mit Autosuggestion, Biofeedback- und einem TENS-Gerät, seine Kopfschmerzen einzudämmen. Er stellte den Speiseplan auf triggerarme Ernährung um, verzichtete auf potenziell belastende oder Allergie auslösende Lebensmittel, aber auch auf Zusatzstoffe wie Carrageen (E407) und Glutamat.

Gleichzeitig nahm er ein niedrig dosiertes Psychopharmakon. "Das hilft, die körpereigenen Schmerzhemmer im Gehirn zu aktivieren", sagt Pothmann. Tims Kopfschmerzen wurden besser, die Besuche im Schmerzzentrum seltener. Er konnte seine Hobbys wieder aufnehmen, das Psychopharmakon absetzen. Manchmal hat er noch Kopfschmerzen. "Die Rückfälle", sagt er, "sind schwer zu ertragen." Aber er habe gelernt, damit umzugehen. Irgendwann, so hofft er, werden sie ganz verschwunden sein.

Alle Folgen

28.1. Bauchschmerzen

30.1. Neurodermitis

31.1. Infektionen

1.2. Diabetes

2.2. Asthma und Allergien

3.2. Erkältungen

4.2. Sport und geistige Entwicklung

6.2. Spielen und seine Bedeutung

7.2. Kopfschmerzen

8.2. Ernährung

9.2. Augenkrankheiten

10.2. Unfälle

11.2. Gesundheitsgipfel