Ein Kieler Geologe stößt auf einen jahrtausendealten Flusslauf im Fehmarnbelt. Das verändert das Bild über die Geschichte der Ostsee.

Kiel. Die Entwicklungsgeschichte der Ostsee muss nach Erkenntnissen von Geologen der Kieler Christian-Albrechts-Universität in Teilen neu geschrieben werden. Auf dem Boden des heutigen Fehmarnbelts zwischen den Inseln Fehmarn und Lolland entdeckte Dr. Peter Feldens vom Institut für Geowissenschaften einen mehr als 10 000 Jahre alten Flusslauf. Dies zeigt, dass sich die junge Ostsee weiter gen Westen erstreckte als bislang angenommen.

Der Zufallsfund liegt bereits knapp vier Jahre zurück. "Was macht denn da so ein Loch?", habe er sich im Sommer 2007 an Bord des Forschungsschiffs "Littorina" beim Blick auf das Echolot gefragt, erzählt der 29 Jahre alte Feldens. Erst am letzten Tag der Forschungsreise war er bei der Kartierung des Meeresbodens auf die Spuren des Flusses gestoßen. In der Folgezeit sammelte Feldens mit Sedimentproben sowie Echolot und Sonaren Daten über die Tiefe und die Bodeneigenschaften, um den mehrere Hundert Meter breiten und bis zu 30 Meter tiefen Fluss zu kartieren. "Er war von den Dimensionen her in etwa so groß wie die Elbe", sagt Peter Feldens.

Vor rund 12 000 Jahren bildete sich an der Stelle der heutigen Ostsee der Baltische Eisstausee. Er verdankte seine Existenz dem Ende der Eiszeit, das einen riesigen Gletscher in Skandinavien abschmelzen ließ. "Der globale Meeresspiegel lag damals rund 120 Meter tiefer als heute. Der Wasserstand des Baltischen Eisstausees lag 30 Meter darüber", sagt der Geologe Dr. Klaus Schwarzer. Über die mittelschwedische Senke floss der See schließlich ab, ein paar Jahrhunderte gelangte sogar Salzwasser aus der Nordsee in den Süßwassersee. Doch von der gigantischen Eislast befreit, erhob sich Skandinavien und schloss die Verbindung zum Atlantik wieder. Noch heute erhebt sich Skandinavien "im nördlichen Bereich der Ostsee, am Bottnischen Meerbusen, um bis zu 80 Zentimeter pro Jahrhundert", so Schwarzer.

Bislang gingen die Wissenschaftler davon aus, dass das von der Nordsee abgeschnittene Meer, die Ancylussee, im Westen zwischen Darß und der dänischen Insel Falster endete, an der sogenannten Darßer Schwelle. Danach wären die heutigen Mecklenburger, Lübecker und Kieler Buchten vor 10 000 Jahren noch trockenes Land gewesen.

Die Sedimente, die Feldens und Kollegen aus dem alten Flusslauf gewonnen haben, zeigen ein anderes Bild: Offensichtlich erstreckte sich über dem Flussbett der damalige Süßwassersee, die Forscher sprechen von einem "ertrunkenen Flusslauf". Schwarzer: "Der Ancylussee hörte nicht an der Darßer Schwelle auf, sondern reichte bis in die Kieler Bucht hinein."

Anhand der Sedimentschichten erkannten die Forscher, dass vor rund 9800 Jahren plötzlich große Wassermassen durch das Flussbett rauschten und das östliche Schleswig-Holstein zu einer Seen- und Sumpflandschaft verwandelten. Das wäre nicht möglich gewesen, wenn an der Darßer Schwelle der Damm gebrochen wäre; vielmehr gab damals eine Barriere nach, die deutlich weiter nordwestlich lag. Wo genau, wollen die Kieler in den nächsten Jahren erforschen - "wir haben gerade in dieser Woche mit unseren dänischen Kollegen darüber gesprochen", sagt Schwarzer. Die Forscher vermuten sie zwischen dem Fehmarnbelt und dem Kattegat.

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Auch das uralte Flussbett wird im Fokus der Forschung bleiben. Schwarzer: "Es stellen sich interessante Fragen für unsere Kollegen der Unterwasserarchäologie, etwa nach Hinweisen auf menschliche Siedlungen. Flüsse waren von jeher günstige Siedlungsorte."

Er selbst werde mit seinen Kollegen das Flusssystem ebenfalls weiter untersuchen, es in östliche Richtung erkunden. Schwarzer: "Der Fehmarnbelt spielt noch immer eine große Rolle beim Wasseraustausch zwischen Nord- und Ostsee. Etwa 70 Prozent des frischen Nordseewassers strömt über diesen Weg in die zentrale Ostsee, nur 30 Prozent über den Öresund zwischen Dänemark und Schweden." Heute sei die Darßer Schwelle mit Tiefen von 18 Metern tatsächlich ein entscheidendes Hindernis - für das einströmende Wasser und für die Schifffahrt, die sich durch eine Furche drängt, die die Schwelle durchschneidet (Kadetrinne).

Die Historie der Ostsee ist zudem vor dem Hintergrund des Klimawandels interessant. Die Kieler Kollegen erhoffen sich von ihrer Entdeckung neue Erkenntnisse über die Entwicklung des Ostsee-Meeresspiegels. Quasi vor der Haustür könnten nun Informationen über Fluktuationen des Meeresspiegels gewonnen werden, sagt Feldens. Diese Erkenntnisse sollen wiederum bei der Vorhersage des gegenwärtigen Meeresspiegelanstiegs helfen.

Nach Aussagen von Klimaforschern steigt der globale Meeresspiegel derzeit um drei Zentimeter pro Jahrzehnt. Bleibt es bei diesem Tempo, wäre für das mitwachsende Skandinavien ein Anstieg von 30 Zentimetern in 100 Jahren zu verkraften - Stockholm hebt sich immerhin noch um 46 Zentimeter pro Jahrhundert.

Doch nördlich von Fehmarn liegt eine sogenannte Kippachse: Küsten, die südlicher liegen, senken sich ab. So verliert Kiel in 100 Jahren etwa zehn Zentimeter an Höhe. Pessimisten befürchten, dass sich die Ostsee dadurch langfristig weiter ausbreiten könnte.