Weil immer mehr Bakterien resistent gegen Antibiotika werden, suchen Forscher nach neuen Wirkstoffen, um Menschen zu heilen.

Hamburg. Als sich im Juni zwei Dutzend Nobelpreisträger in Lindau am Bodensee trafen, um dort mit Nachwuchswissenschaftlern über die Weltgesundheit zu sprechen, dominierte ein Thema: die zunehmende Resistenz von Bakterien gegen Antibiotika. Die Experten waren sich einig: Es ist höchste Zeit, das Problem anzugehen. Bereits im April hatte die Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation, Margaret Chan, mit Blick auf Antibiotika gewarnt: "Die Welt steht kurz davor, diese Wundermittel zu verlieren."

Dabei schien dank dieser Medikamente der Kampf gegen Bakterien gewonnen. Nachdem 1941 der erste Patient mit Penicillin behandelt worden war, brachte die Pharmaindustrie immer neue Wirkstoffe auf den Markt; einst gefürchtete Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Syphilis und Gonorrhoe (Tripper) verloren ihren Schrecken. Auch Blutvergiftungen konnten Ärzte nun effektiv behandeln; niemand musste mehr fürchten, durch eine Schramme zu sterben.

Doch schon 1961 entdeckten britische Ärzte Keime vom Typ Staphylokokkus aureus, die resistent gegen Methicillin waren, ein Antibiotikum aus der Klasse der Penicilline. Seitdem haben diese sogenannten MRSA (Methicillin-resistente Staphylokokkus aureus) gelernt, sich auch gegen Wirkstoffe aus anderen Antibiotika-Klassen zu wehren - und viele weitere Keime taten es ihnen nach. In den vergangenen Jahren häuften sich Berichte über neuartige "Superbakterien". So schrieben vor Kurzem etwa schwedische Forscher von einem bisher unbekannten Tripper-Keim, der gegen alle verfügbaren Substanzen resistent ist.

Gesunde Menschen müssen sich deshalb zwar keine Sorgen machen. "Es entsteht teilweise der Eindruck, dass man jederzeit damit rechnen müsste, von einem todbringenden Erreger infiziert zu werden - dem ist sicher nicht so", sagt Privatdozent Dr. Holger Rohde, Bakteriologe vom Universitätsklinikum Eppendorf (UKE). Tatsächlich könnten die meisten Erreger gesunden Menschen in der Regel nichts anhaben. Staphylokokkus aureus etwa tummelt sich bei 30 Prozent aller Menschen auf der Haut und teilweise in den oberen Atemwegen - ohne Folgen.

Im Krankenhaus allerdings, wo das Immunsystem der Patienten häufig geschwächt ist, können besonders die multiresistenten Erreger gefährlich werden. Bis zu 600 000 Menschen erkranken jedes Jahr an Krankenhauskeimen, davon 55.000 an Staphylokokkus aureus bzw. 14 000 an MRSA, schätzt das Institut für Hygiene und Umweltmedizin an der Charité in Berlin. Bis zu 15 000 Patienten sterben infolge solcher Infektionen.

Dem GERMAP-Bericht 2008 zufolge hat das Resistenzniveau der gram-positiven MRSA seit 2001 zwar kaum noch zugenommen. 2006 waren schätzungsweise 20 Prozent aller Staphylokokkus aureus MRSA. Außerdem lassen sich diese Keime noch mit einer Reihe von Antibiotika behandeln. Eine starke Zunahme von Resistenzen verzeichnen Experten dagegen bei gram-negativen Bakterien wie Klebsiella pneumoniae (besiedeln vor allem die Lunge) und Escherichia coli (besiedeln vor allem den Darm) - insbesondere bei solchen Stämmen, die ein Enzym namens ESBL bilden, das eine Vielzahl von Antibiotika unwirksam machen kann. Zunehmend tauchen auch gram-negative Bakterien auf, die sogar gegen Carbapeneme resistent sind, eine Klasse von Reserveantibiotika, berichtet das Robert-Koch-Institut in Berlin.

"Es ist beunruhigend zu sehen, in welchem Tempo sich resistente gram-negative Keime ausbreiten, während die Zahl der verfügbaren Antibiotika schmilzt", sagt Holger Rohde vom UKE. "Teilweise müssen Ärzte schon bei wenig bedrohlichen Erkrankungen wie einer Harnwegsinfektion ein Breitbandantibiotikum einsetzen." Und damit nicht genug: "Zunehmend werden durch multiresistente Erreger verursachte Infektionen auch ambulant erworben", also bei niedergelassenen Ärzten, schreibt das Bundesgesundheitsministerium in seinem aktuellen Bericht zur "Deutschen Antibiotika-Resistenzstrategie".

Die Pharmaindustrie war den Erregern lange Zeit voraus, doch zuletzt ist das Antibiotika-Arsenal immer langsamer gewachsen. Von den derzeit mindestens 78 verwendeten Antibiotika kamen nach Angaben des Verbands der forschenden Arzneimittel-Unternehmen in Deutschland (VFA) 48 Antibiotika - also 62 Prozent - von 1950 bis Ende 1990 auf den Markt. Von 1991 bis Ende 2001 wurden 23 neue Antibiotika zugelassen, seit 2002 nur noch sieben.

Zwar hat der VFA angekündigt, dass in den nächsten Jahren neun neue Breitbandantibiotika zugelassen werden könnten, von denen zwei auch gegen gram-negative Erreger wirken sollen. Drei dieser Substanzen befänden sich im europäischen Zulassungsverfahren, sieben in der letzten Studienphase davor. Experten sind jedoch skeptisch. Das Robert-Koch-Institut etwa geht davon aus, dass "in den nächsten Jahren nicht mit der Zulassung neuer, innovativer Antibiotika gegen gram-negative Bakterien zu rechnen" ist.

Einstige Vorreiter, darunter etwa die Großunternehmen Bayer und Roche, stellen zwar noch Antibiotika her, arbeiten aber schon länger nicht mehr an der Entwicklung neuer Substanzen. "Der Markt ist kleiner geworden. Es lohnt sich zwar immer noch, Antibiotika zu entwickeln, aber nicht mehr für so viele Unternehmen", begründet VFA-Sprecher Rolf Hömke die Entwicklung. Von der Entdeckung eines neuen Wirkstoffs bis zur Marktreife können zwölf Jahre vergehen, die Entwicklung kann viele Millionen Euro kosten. Genutzt wird ein Antibiotikum aber meist nur wenige Tage; insofern lässt sich damit erheblich weniger Geld verdienen als etwa mit Medikamenten gegen chronische Erkrankungen wie Bluthochdruck oder Diabetes. Und selbst wenn eine neue Substanz auf den Markt kommt, setzen Ärzte sie erst nur als Reserveantibiotikum ein, denn je häufiger Bakterien mit Antibiotika konfrontiert werden, desto eher bilden sie resistente Stämme. Medizinisch ist diese Praxis notwendig; den Interessen der Pharmaindustrie läuft sie zuwider.

"Dieser Zirkel lässt sich nur durchbrechen, wenn künftig der Staat bei der Forschung zuschießt", sagt Prof. Petra Gastmeier, Direktorin des Instituts für Hygiene und Umweltmedizin an der Charité. Sie gehört zu einer wachsenden Zahl von Wissenschaftlern, die für strategische Partnerschaften zwischen wissenschaftlichen Instituten und der pharmazeutischen Industrie plädieren. Dadurch würde Grundlagenforschung stärker mit Produktentwicklung verknüpft. Eine Alternative sei, dass Antibiotika deutlich teurer würden.

"Man kann das nachlassende Engagement der Pharmaindustrie beklagen, aber die Situation ist eben so, dass man Anreize schaffen muss, um etwas zu ändern", sagt auch Prof. Rolf Müller, Leiter des Helmholtz-Instituts für Pharmazeutische Forschung in Saarbrücken. "Sonst wird der 78. Betablocker entwickelt, aber kein neues Antibiotikum." Müller gehört zur kleinen Gruppe jener Forscher, die nach neuen Wirkstoffen suchen. Dabei konzentriert er sich auf sogenannte Myxobakterien. Diese Keime kommen in Erde, Kompost und Tierdung vor. Mehr als 6000 Stämme sind bekannt. Sie produzieren eine Vielzahl von Substanzen, darunter auch solche, die das Wachstum von Bakterien hemmen. Bisher habe er zehn Substanzen ausgemacht, die das Potenzial für neue Antibiotika hätten, sagt Müller.

Einen anderen Ansatz verfolgt Dr. Andreas Schubert vom Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie in Leipzig. Er experimentiert mit antimikrobiellen Peptiden (Eiweißbestandteilen). Sie kommen im Gegensatz zu den von Pilzen und Bakterien produzierten Antibiotika in weiter entwickelten Organismen vor, etwa in Pflanzen, Insekten und Säugetieren. Beim Menschen sitzen sie etwa auf der Haut und auf Schleimhäuten und schützen dort vor Infektionen.

Die künstlich erzeugten Peptide, die Schubert erprobt, sind positiv geladen, deshalb können sie an negativ geladene Bakterienmembran andocken und diese durchlöchern. Bisher habe er 20 Peptide identifiziert, die verschiedene Erreger am Wachstum hinderten, darunter solche, die schon in geringer Konzentration MRSA abtöten könnten, sagt Schubert. Auch gegen gram-negative Erreger wie Klebsiellen würden einige der Peptide wirken.

Beide Ansätze - antibiotische Stoffe aus Myxobakterien und antimikrobielle Peptide - sind bisher allerdings noch nicht über Versuche in der Kulturschale (in vitro) hinausgekommen; bis daraus Medikamente werden, könnte es noch zehn Jahre dauern. Künftig wird die Antibiotika-Forschung deshalb an Tempo gewinnen müssen, um den Vorsprung vor den Keimen nicht zu verlieren. Denn grundsätzlich gilt: "Die Frage ist längst nicht mehr, ob krankheitserregende Bakterien resistent werden - sondern wann", sagt Rolf Müller.