Bewegungsabläufe der Boxweltmeisterin Kentikian wurden von Wissenschaftlern mit Elektroden und Spezialkameras vermessen.

Hamburg. Immer wieder feuert Susi Kentikian ihre Fäuste in Richtung ihres Trainers Magomed Schaburow. Blitzschnell fliegen die Hände ins Ziel. Doch es ist keine Trainingseinheit im Gym, die die Boxweltmeisterin absolviert. Susi Kentikian schlägt im Studio Hamburg, im Dienste der Wissenschaft. Komplett verkabelt und zeitweise mit einer überdimensionierten Brille, die fast ihren halben Kopf verdeckt - und mit der sie der Star auf dem Schlagermove wäre.

Für eine Dokumentation der ZDF-Sendereihe "Terra X" sollen unter dem Thema "Das unsichtbare Universum" Bewegungen und Phänomene sichtbar gemacht werden, die zigtausendmal schneller sind als das menschliche Auge. Dafür haben die Wissenschaftler Martin S. Fischer, 57, von der Universität Jena und Heiko Wagner, 43, von der Uni Münster die 24 Jahre alte Hamburgerin mit Spezialkameras gefilmt, um den Bewegungsablauf beim Boxen untersuchen zu können. Herausgekommen ist eine Analyse, die es in puncto Genauigkeit weltweit im Leistungssport noch nicht gegeben hat.

Um möglichst umfassende Daten ermitteln zu können, wurde Kentikian zunächst an 20 Muskelpartien des Oberkörpers mit Elektroden beklebt, um ein Elektromyogramm (EMG) zu erstellen. Damit lässt sich der von den arbeitenden Muskeln erzeugte Strom messen, um ablesen zu können, wie stark und wie lang die einzelnen Muskelpartien belastet werden.

Zusätzlich wurden diverse Marker auf dem Körper der Sportlerin und dem von ihr bearbeiteten Sandsack angebracht. Diese Marker reflektieren die von sechs Spezialkameras des schwedischen Systems Qualisys ausgesendeten Infrarotblitze. Daraus entsteht ein dreidimensionales Bewegungsbild. Gefilmt wird mit einer hochfrequenten Videokamera, die in HD-Qualität 1000 Bilder pro Sekunde liefert.

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In drei Phasen am Sandsack - langsames Schlagen, schnelles Schlagen, maximal hartes Schlagen - werden alle relevanten Werte ermittelt. Zusätzlich wird mittels einer dem "Hau den Lukas" vergleichbaren Kraftplatte auch die Maximalkraft gemessen. Um die Werte seriös einschätzen und vergleichen zu können, benötigen die Wissenschaftler noch Zeit zur Auswertung. Dennoch ist sich Fischer sicher: "Susi Kentikian ist die schnellste Boxerin der Welt."

Was die Professoren besonders beeindruckte, war der automatisierte Bewegungsablauf, in den Kentikian während der Aufnahmen verfiel. "Nur Topsportler schaffen es, dass sie über ihre Bewegungen nicht mehr nachdenken müssen. Wir können anhand von Susis Bewegungsbild ablesen, dass die Abläufe tief im Rückenmark gespeichert und bei Bedarf abgerufen werden", sagt er. Die Aussage der Athletin, im Kampf nicht denken zu dürfen, bekomme dadurch wissenschaftliche Nahrung. Es gehe, so Fischer weiter, nicht darum, die Abläufe im Gehirn zu erforschen. "Wir machen mit unserer Dokumentation sichtbar, was das Ergebnis dessen ist, was im Hirn passiert."

Ein weiterer Aspekt, der Fischer und Wagner faszinierte, war die Fähigkeit Kentikians, ihre Gegnerinnen "lesen" zu können. "Der Mensch hat eine Reaktionszeit von 200 Millisekunden. Der Schlag eines Boxers ist schneller. Man kann ihm also nur ausweichen, wenn man vorher weiß, dass er kommen wird", sagt Fischer. Um dies zu testen, musste die 153 cm kleine Fliegengewichtlerin eingangs erwähnte Brille, die Eye Tracking Glasses, aufsetzen.

Mithilfe dieses von der Firma SMI entwickelten Systems werden mit zwei Kameras die Augen gefilmt und mit einer dritten das Blickfeld des Probanden nachgestellt. "Damit können wir Leistungssportlern aufzeigen, wohin sie unter Belastung blicken, und ihnen helfen, die visuelle Aufmerksamkeit auf den richtigen Punkt zu lenken", sagt SMI-Produktmanager Arnd Rose, 34.

Susi Kentikian war von der ungewöhnlichen Sicht auf ihre Arbeit begeistert. "Das war eine völlig neue Erfahrung für mich, weil ich gar nicht wusste, was technisch alles möglich ist. Während des Schlagens habe ich die vielen Kabel und Elektroden nicht gespürt", sagte sie. Auf die Ergebnisse der ausgewerteten Daten ist sie sehr gespannt. Da sie derzeit noch nicht in der unmittelbaren Wettkampfvorbereitung steht, sollen Teile der Tests in ein paar Wochen wiederholt werden, um Referenzwerte zu erhalten. Das interessanteste Experiment - Messungen unter Wettkampfbedingungen - wird es allerdings auf absehbare Zeit nicht geben. Verkabelt und mit Brille im Ring - das wäre Zauberei und keine Wissenschaft.

"Terra X - Das unsichtbare Universum" 3. März, 20.15 und 21 Uhr, ZDF neo; 11. und 18. März, 19.30 Uhr, ZDF