Spezielle Kunststoffe reichern im Stil von Muscheln chemische Substanzen an und geben Auskunft über Wasserqualität.

Hamburg. Muscheln filtern Nährstoffe aus dem Wasser und fangen dabei Schadstoffe ein. Diese zweite Eigenschaft wollen Chemiker des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrografie (BSH) zur Meeresüberwachung imitieren, sie testen sogenannte Passivsammler: spezielle Kunststoffstreifen, die wie künstliche Muscheln arbeiten. In einem gut zweijährigen Projekt wollen sie herausfinden, wie gut die Plastikfähnchen im Format einer Visitenkarte die Schadstoffbelastung der Nordsee abbilden. Sind die Praxistests erfolgreich, könnten die BSH-Chemiker zeitlich lückenlos den Zustand des Meeres erfassen.

Mit der neuen Technik wollen die Forscher zunächst die Gruppe der organischen Schadstoffe ins Visier nehmen. Dazu gehören Pestizide (DDT, Lindan, verschiedene Unkrautgifte), sogenannte PAK (Polyzyklische Aromatische Kohlenwasserstoffe, die bei unvollständiger Verbrennung entstehen), Perfluorcarbone (PFC, werden als Oberflächenbehandlungsmittel eingesetzt) und verschiedene Arzneimittelwirkstoffe. "Bislang haben wir drei- bis viermal im Jahr vom Schiff aus in einem festgelegten Raster 20 bis 35 Proben genommen", sagt Dr. Norbert Theobald, der am BSH-Labor in Sülldorf die Organische Schadstoffanalytik leitet. "Das werden wir auch weiterhin tun. Zusätzlich wollen wir an zwei bis drei Orten unsere Passivsammler ausbringen."

Jeweils ein halbes Dutzend Plastikstreifen wird dann vier bis sechs Wochen lang ins Meerwasser gehängt, an Gestellen, die an Bojen, Feuerschiffen oder Forschungsplattformen (Fino 1 und Fino 3) angebracht sind. Anschließend werden die Kunstmuscheln eingesammelt und ihre Ausbeute im Labor untersucht. Dabei seien die Plastikstreifen verlässlicher als echte Muscheln, betont Theobald. Denn die lebenden Exemplare lieferten keine standardisierten Werte, sie haben verschiedene Größen, Alter und sind unterschiedlich aktiv.

Die unscheinbaren Plastikstreifen sind zuverlässiger - und sie sind wissenschaftlich anspruchsvoller, als es auf den ersten Blick scheint. Das liegt an einem Grundsatzproblem, das die Chemiker zu lösen haben: Sie möchten Schadstoffkonzentrationen im Wasser ermitteln, die Kunststofffänger liefern jedoch nur bestimmte Mengen an Schadstoffen.

Herkömmliche Wasserproben sammeln die Meeres-Chemiker vom Schiff aus in 100-Liter-Glaskugeln und extrahieren daraus die jeweiligen Schadstoffmengen. Sie können also leicht errechnen, wie viel Milli-, Mikro- oder Nanogramm der unterschiedlichen Stoffe im Liter Wasser vorkommen. Um dies auch für die Passivsammler zu ermitteln, müssen die Forscher die Wassermenge kennen, die die Streifen umströmt hat. Dazu statten sie den Kunststoff mit einer Substanz aus, die während des Marathonbades allmählich ins Wasser übergeht.

Je stärker die Strömung, desto mehr wird abgegeben. Dieser Zusammenhang gilt auch umgekehrt: Je mehr Wasser an die Teststreifen strömt, desto mehr Schadstoffe können angelagert werden. Der Verlust der Markersubstanz spiegelt den Einfluss der Strömung auf die Messungen wider. Ist der Schwund bekannt, lässt sich der Strömungseffekt herausrechnen - die Differenz zwischen den Endwerten zeigt dann nur noch die unterschiedlich starke Schadstoffbelastung des Wassers.

Wie wirkt sich Algenbewuchs auf die Sammeltätigkeit aus, wie die über die Jahreszeit schwankenden Wassertemperaturen? Dies sind zwei der Fragen, die die Forscher in diesem und den folgenden Sommern klären wollen. Die ersten Silikonstreifen werden in zwei bis drei Wochen im Hamburger Hafen, am BSH-Anleger an den Elbbrücken, in die Elbe gehängt - "da können wir jederzeit an sie heran, sie über die Wochen besser beobachten", so Theobald. Im Sommer sollen dann mindestens zwei Einsätze in der Nordsee folgen.

Sie werden anschließend mit den Ergebnissen der Schiffsreisen verglichen. "Am Projektende Mitte 2012 wollen wir wissen, ob das Verfahren für den routinemäßigen Einsatz taugt, wo seine Stärken und Schwächen liegen, wie genau die Daten sind und welche Schadstoffe sich mit welchen Kunststoffstreifen-Varianten am besten messen lassen", sagt der BSH-Chemiker.

Eine Stärke ist bereits offensichtlich: Die künstlichen Muscheln können auch im Winterhalbjahr messen. Theobald: "Bislang haben wir organische Schadstoffe nur von Frühjahr bis Herbst erfasst, da wir nur in dieser Zeit Proben nehmen konnten. Im Winter ist der Wellengang oft zu stark, um die Glasbehälter an Bord zu hieven. Wenn eine Glaskugel an der Bordwand zerschellt, geraten die Mitarbeiter durch herumfliegende Splitter in Gefahr. Zudem kostet so eine Kugel um die 1500 Euro."

Sollten die künstlichen Muscheln ihren Zweck erfüllen, könnten sie langfristig nicht nur die zeitlichen Überwachungslücken schließen, indem sie, alle paar Wochen ausgewechselt, kontinuierlich Schadstoffe sammeln. Sie könnten womöglich mithilfe eines Computermodells und den Datenreihen der Schiffsmessungen räumlich auf die Deutsche Bucht hochgerechnet werden - und den BSH-Wissenschaftlern mittelfristig die eine oder andere teure Forschungsfahrt ersparen.