Forscher stoßen auf Spuren einer bislang unbekannten Hochkultur, die vor mehr als 1000 Jahren im Amazonasbecken existierte.

Hamburg. Geheimnisvoll war die Neue Welt für die Europäer, die im 16. Jahrhundert nach und nach eindrangen in den südamerikanischen Kontinent. Als sie es hinauf in die Hochanden geschafft hatten, offenbarte sich den Spaniern ein straff organisiertes Staatswesen, mit steinernen Großstädten, mit Wehrbauten und Heiligtümern, über viele tausend Kilometer verbunden durch breite, steile Straßen mit Raststätten und Botensystemen. Das Reich der Inka, fremdartig, als wäre es ein Traum, eine Welt ohne Rad, Pferd und Schrift. Und dennoch eine sagenhafte Hochkultur, voller Goldschätze obendrein.

Unten aber, im Osten, im unendlich weiten Land der großen Flüsse, herrschte der Dschungel. Hier lebten der Jaguar, der Affe, der Skorpion, und es lebten hier auch unbekannte Insekten. Für mehr war kein Platz im dichtesten, finstersten Wald der Welt, wo kein Mensch hätte gehen oder stehen können. Nur hier und da, so hörte man, sollten steinzeitliche Indianerstämme ihr Fleckchen gefunden, ihre Lichtungen geschlagen haben zum Leben. Und irgendwo, gewiss Monate entfernt oder vollends unerreichbar, so war den Konquistadoren zu Ohren gekommen, sollten auch prächtige Städte sein, mitten im Urwald. Mit Palästen aus Gold. Regiert von einem Herrscher, der in Goldstaub badete: "El Dorado". Aber dies, so meinte man damals schon, war wohl kaum mehr als ein Gerücht. Alexander von Humboldt verkündete nach seiner Rückkehr aus dem Dschungel vor 200 Jahren endgültig: Da ist nichts dran.

Nur ein Gerücht? Vergangene Woche meldete die Londoner Zeitung "Guardian": "Amazonas-Entdecker bringen Spuren des realen El Dorado ans Licht". Die italienische "La Repubblica" zog nach: "El Dorado gefunden. Die verlorene Zivilisation war keine Legende". Das sagenhafte Goldland, war es 500 Jahre nach Kolumbus und 200 nach Humboldt endlich doch ans Licht gekommen?

Den Meldungen lag eine gerade veröffentlichte Studie zugrunde, in denen Archäologen neue, brisante Funde aus dem südamerikanischen Urwald vorstellten. Etwas zu forsch texteten die Blätter daraus ihre Balkenüberschriften. Unnötigerweise. Denn auch wenn in der Studie kein Wort steht von jenem sagenhaften Goldland - sensationell ist es allemal, was die Wissenschaftler um den Finnen Martti Pärssinen in der Fachzeitschrift "Antiquity" jetzt präsentierten.

Auf einer Fläche mit dem Durchmesser von 250 Kilometern war ihr brasilianischer Kollege Alceu Renzi einer hoch entwickelten altamerikanischen Kultur auf die Spur gekommen. Nicht im Hochland, sondern im Amazonasbecken, dort wo nach alter Lesart eigentlich niemand über das Steinzeitniveau hinausgekommen war. In der Region, die die Archäologin Betty Meggers, bekannteste Amazonasforscherin des 20. Jahrhunderts, mit ihrem Buch "Das nachgemachte Paradies" als wenig lebenswert befand.

Das bisher unbekannte Reich im Dschungel lag dort, wo heute der brasilianische Bundesstaat Acre an den äußersten Norden Boliviens grenzt. Kein Zufall, dass Spuren dieses gewaltigen Gemeinwesens erst in unseren Tagen ans Licht kommen. Offenbar waren die Siedlungen bereits vor der Ankunft der Spanier verlassen worden. Dichter Regenwald wucherte anschließend wieder über die vorkolumbischen Liegenschaften. Nun aber, da hier nach vielen Hundert Jahren erneut Menschen den Dschungel abholzen, diesmal für Rinderweiden, gibt der Boden seine Vergangenheit preis. Renzi sah die ersten Strukturen aus dem Flugzeug, anschließend war die Satellitenbeobachtung "Google Earth" eine große Hilfe für die Archäologen - die Suchmaschine auch für untergegangene Welten.

Großflächige geometrische Figuren sind in dem Gebiet auf dem ehemaligen Urwaldboden zu sehen, von der Forschergruppe vorläufig "Geoglyphen" (Erdzeichen) genannt; über 200 Muster, wie von Riesenhand ins Erdreich gepflügt. Noch sind sie sich über die genauen Funktionen nicht im Klaren. Wozu dienten sie, etwa die im Süden der Region vielfach gefundenen elf Meter breiten und ein bis drei Meter tiefen Gräben, die Kreise von bis zu 300 Metern umschließen? Als Stadtgräben? Oder die riesigen rechteckigen Formationen aus doppelten parallelen Gräben weiter im Norden? 55 Meter breite Straßen, flankiert von turmähnlichen Aufschüttungen verbinden diese rätselhaften Hinterlassenschaften einer alten Kultur. Warum waren sie so breit? Sind es Hinterlassenschaften der Metropole eines größenwahnsinnigen Urwald-Herrschers, 1000 Jahre alt?

Aus der Luft zeichnen sich die Geoglyphen so deutlich ab wie jene Kornkreise auf heutigen Äckern, mit denen Scherzbolde gutgläubigen Zeitgenossen die Ankunft Außerirdischer suggerieren wollen. Doch bei den neuen Funden handelt es sich um mehr als reine Zeichensetzungen. Das Team um Renzi und Pärssinen fand Bruchstücke von Hütten, Palisaden, Keramikscherben, von Menschenhand gefertigte Holzkohle. In angelegten Gruben sahen sie Reste von Teichen, in denen die Bewohner Schildkröten oder Fische gehalten haben könnten, um auch Durststrecken, etwa bei einer Belagerung durch feindliche Stämme, durchstehen zu können.

Organische Funde wie Holzkohle geben der Wissenschaft Auskunft über ihr Alter. An der Universität von Helsinki konnte man ermitteln, dass die Region in den Jahrhunderten vor und nach der vorletzten Jahrtausendwende bewohnt war, offenbar aber wohl schon vor der Ankunft der Europäer verlassen wurde. Aus unbekannten Gründen, ähnlich wie beim rätselhaften Zusammenbruch der Maya-Kulturen im Tiefland von Yukatan. Doch während die mächtigen Bauwerke der Maya, wie die der Azteken, der Inka und anderer altamerikanischer Hochkulturen zum Teil noch heute stehen, weil sie aus Stein errichtet wurden, ist von den Holzbauten im weiten Unterland nichts mehr übrig. Hier gab es keine Steine, und was damals aufgegeben wurde, versank in wenigen Jahren unter dem Wurzelwerk des Waldes, wurde von seinem Stoffkreislauf einverleibt.

Auf 60 000 schätzen die Archäologen die Einwohnerzahl des Urwaldreichs. Angesichts des angrenzenden, undurchsichtigen Dschungels ringsumher wollen sie aber auch nicht ausschließen, dass sie von der einst bewohnten Fläche erst einen Bruchteil, vielleicht zehn Prozent erfassen konnten. Dass es sich um eine Dependance der Andenkulturen gehandelt haben könnte, quasi als ein Volk von Tiefland-Inkas, schließen Pärssinen und seine Kollegen aus. Die Funde geben keinen Hinweis auf Handelsverbindungen oder andere Beziehungen. Man war autonom.

Die Erkenntnisse des brasilianisch-finnischen Teams sind nicht die ersten Indizien dafür, dass an den alten, angezweifelten Hinweisen auf jene sagenhaften Städte im Amazonasdschungel mehr dran gewesen sein könnte, als sich die Altamerikanisten träumen ließen. Seit gut zehn Jahren, nach einzelnen Funden, beginnt die Zunft zu ahnen, was unter dem zum Teil offenbar gar nicht mal so alten Dschungel an historischen Zeugnissen schlummern könnte. Allerdings tat sich ihnen noch nie ein nur annähernd so großes Areal auf, wie es jetzt rund um Acres Hauptstadt Rio Branco der Fall ist.

Ein Grund dafür, dass die Forscher es sich schlicht nicht vorstellen konnten, dass im Amazonasbecken ertragreicher Ackerbau für sesshafte Völker betrieben werden konnte, war der mangelnde Humus des Urwaldbodens. Erst vor wenigen Jahren geglückte Funde in der Nähe des Xingu-Flusses weiter im Osten zeigten ihnen aber, wie die Tieflandindianer durch ausgefeilte Agrartechnik dieses Manko umgingen: Holzkohle, Dung und Kompost, angereichert mit Tonscherben und, wo vorhanden, Muschelschalen - aus der Mixtur fertigten die Amazonasbewohner eine Art Dünger, der ihnen einen fruchtbaren Boden bescherte für Feldfrüchte und reichhaltigen Obstanbau. Diese "Terra Preta" (portugiesisch für "schwarze Erde") findet sich, das haben neuere Untersuchungen ergeben, noch heute auf schätzungsweise zehn Prozent der Fläche des gesamten Amazonasraumes, vornehmlich auf den höheren Lagen, die vor den alljährlichen Überschwemmungen geschützt sind. Mindestens diese Urwaldflächen waren also schon vor Kolumbus beackert worden. Und: Sie gelten heute noch als äußerst fruchtbar. So wird die Terra Preta von Landbaubetrieben unserer Tage fleißig nachgemixt, Biohöfe auch hierzulande schwören darauf.

Abgedriftet bei seiner Suche nach El Dorado befuhr im Jahre 1542 der Konquistador Francisco de Orellana als erster Europäer den Amazonas, vom Oberlauf bis zur Mündung. Von vielen Millionen Menschen berichtete er, die die Ufer und das Hinterland bewohnt haben sollten. Fast hundert Jahre später erst folgten die nächsten Entdecker. Sie aber trafen kaum noch Menschen an. Hatte Orellana übertrieben? Mit welchem Motiv? Oder waren die Indianer-Völker zwischenzeitlich verschwunden, dahingerafft von Seuchen, die von Orellanas Mannschaft oder über andere Wege von den Spaniern über sie kamen und gegen die ihr Immunsystem nicht gewappnet war? Inzwischen halten die Historiker die letzte Variante nicht länger für ausgeschlossen.

Nicht nur Orellana, auch Abenteurer der Moderne könnten bei abzusehenden weiteren Entdeckungen rehabilitiert werden. Wie etwa Percy Harrison Fawcett, ein britischer Offizier, der in den 1920er-Jahren mehrere Expeditionen in verschiedenste Gegenden des Amazonaswaldes unternahm und mit immer abenteuerlicheren Berichten zurückkehrte: von breiten Chausseen durch den Dschungel, von aufgeschütteten Erdhügeln voller Keramik, von Spuren untergegangener Zivilisationen, unter anderem auch in jener Gegend, in der jetzt Pärssinen fündig wurde. Man belächelte ihn. Dies erst recht, als er 1925 mit seinem Sohn zu seiner letzten Reise aufbrach. Die verschwundene reiche "Stadt Z" wollten sie aufsuchen, von der er auf seinen Touren gehört habe. Im Dschungel im Nordwesten des Bundesstaates Mato Grosso sollte sie liegen. Am Ende blieben die beiden selbst verschwunden - auch wenn 1931 ein Schweizer Regenwaldjäger berichtete, er habe bei den Indianern tief im Wald einen großen, älteren Mann mit blauen Augen und längerem Bart getroffen, der sich als Oberst der britischen Armee ausgegeben habe.

Letztes Jahr erschien in Amerika das Buch "The Lost City of Z". Brad Pitt hat sich schon die Filmrechte gesichert. Er sollte sich auf dem Laufenden halten über die neuen archäologischen Funde. Vielleicht wird es ja doch noch was, auch mit El Dorado.