Vor 70 Jahren trafen sich britische Mathematiker auf einem Landgut und entschlüsselten den Nachrichtenverkehr Deutschlands im Zweiten Weltkrieg.

Hamburg/London. Gegen Ende der ersten Septemberwoche des Jahres 1939 erhielt eine ganze Reihe von Menschen in England ein Telegramm mit der dürren Nachricht: "Tante Flo geht es nicht gut." Zugespitzt könnte man behaupten, dass diese scheinbar banale Depesche den Zweiten Weltkrieg um einige Jahre verkürzt, wenn nicht gar überhaupt den Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland ermöglicht hat.

Die Empfänger dieses Telegramms griffen jedenfalls hastig zu Hut und Mantel, stürzten aus dem Haus und reisten auf schnellstem Wege an einen verträumten Ort rund 70 Kilometer nordwestlich von London - im Bezirk Milton Keynes in der Grafschaft Buckinghamshire. Das grafschaftliche Wappen - ein weißer Schwan in Ketten, denn alle wilden Schwäne in England gehören der Krone - ziert der lateinische Spruch Vestigia Nulla Retrorsum. Es führt kein Weg zurück. Kaum ein Motto hätte sich für das, was sich in der idyllischen Abgeschiedenheit abspielte, besser eignen können.

Bei den Empfängern der Telegramme handelte es sich vor allem um Mathematiker mit einer ganz besonderen Begabung: dem Code-Knacken. Sie versammelten sich im Herrenhaus des Ortes Bletchley Park. Auf dem Gelände entstand eine kleine Siedlung aus äußerlich bescheidenen Holzbaracken, englisch "Huts". Schließlich arbeiteten etwa 10 000 Menschen in Bletchley Park.

Die Nachbarn rätselten über die vielen Fremden und darüber, was auf diesem Herrensitz eigentlich vor sich ging. Eines Morgens wurde ein Mann beobachtet, der per Fahrrad dem Anwesen zustrebte und eine Gasmaske über den Kopf gezogen hatte. Fortan hielt sich das Gerücht, es handele sich um eine Heilanstalt für geistig Instabile - eine Version, die von den Leuten in Bletchley Park nicht bestritten, sondern eher noch gestützt wurde. Bis 1973 waren die Vorgänge dort als "Top secret" eingestuft. Mancher ahnungslose Anwohner hat noch viel später erfahren, dass er neben einer höchst geschichtsträchtigen Stätte wohnte.

Denn in Bletchley Park residierte die geheime Government Code and Cypher School, Eingeweihten auch unter dem Namen "Station X" bekannt. Die besten Mathematiker Großbritanniens und Polens arbeiteten hier Tag und Nacht an einer kriegsentscheidenden Aufgabe: der Entschlüsselung des geheimen Nachrichtenverkehrs des Dritten Reiches. Die Nazis hatten eine geniale Maschine zum Kodieren von Telegrammen und Funksprüchen entwickelt. Die Rotor-Schlüsselmaschine Enigma verfügte über mehr als 200 Trilliarden Verschlüsselungsmöglichkeiten - ihr Code galt als vollkommen unknackbar und damit sicher. Mit der Enigma wurden politische und diplomatische Nachrichten verschlüsselt, vor allem aber militärische. Auch die "Wolfs-Rudel" der U-Boote im Atlantik wurden per Enigma-Befehlen geführt.

Bereits 1932 war es jedoch dem jungen polnischen Mathematik-Genie Marian Rejewski in der Warschauer Dechiffrierstelle Biuro Szyfrow gelungen, Teile der hoch komplizierten Arbeitsweise von Enigma-Vorgängern zu enträtseln. Im Urteil des amerikanischen Historikers David Kahn ist Rejewski deshalb "einer der größten Kryptoanalytiker aller Zeiten". Seine Leistung ist auch bezeichnet worden als "das Theorem, das den Zweiten Weltkrieg gewann".

Aber Rejewski allein schaffte es nicht, der Enigma ihre Rätsel vollständig zu entreißen. Das gelang erst, als die polnischen Code-Knacker 1939 auf der Flucht vor der Wehrmacht nach Bletchley Park wechselten. Dort stießen sie auf einige britische Zahlen-Magier - wie den genialen Sonderling Alan Turing, der einen großen Teil der theoretischen Grundlagen für unsere moderne Informations- und Computertechnologie schuf. Nach ihm benannt sind der Turing-Preis, die bedeutendste Auszeichnung in der Informatik, und der Turing-Test zum Nachweis künstlicher Intelligenz.

Die Einblicke, die Turing bei der Entschlüsselung der Enigma-Maschine erhielt, führten mit zur Entwicklung von "Eniac", dem ersten programmierbaren, digitalen elektronischen Computer.

Ausgehend von einem polnischen Urtyp konstruierte Turing eine gewaltige Rechenmaschine, die "Turing-Bombe", die es schließlich mit Enigma aufnehmen konnte. Unter dem Decknamen "Ultra" gelang es den Code-Knackern von Bletchley Park, zunächst die Nachrichten der deutschen Luftwaffe, später auch des Heeres zu entziffern. 1943 zum Beispiel wurden mehr als 2500 vermeintlich sichere deutsche Funksprüche entschlüsselt - pro Tag. Nur die moderneren Enigma-Varianten der deutschen Marine widerstanden zunächst allen Angriffen. Bis es der britischen Marine gelang, an Bord der eroberten U-Boote U 110 (1941) und U 559 (1942) komplette Enigma-Maschinen und Entschlüsselungsanweisungen zu erbeuten. Die dramatische Jagd auf die Geheimnisse der deutschen Code-Maschine lieferte den Stoff für Hollywood-Filme.

Amerikanische Spezialisten schufen schließlich eine 15-mal schnellere Version der "Turing-Bombe". Von da an war das Schicksal der deutschen Streitkräfte praktisch besiegelt - ihre Einsatzpläne und -befehle bis hin zur kompletten Gefechtsaufstellung an der Küste der Normandie lagen offen vor den Alliierten wie unter Glas. Von da an konnten die Alliierten ihre Konvois an den deutschen U-Boot-Rudeln vorbeisteuern - sie wussten ja, wo sie auf der Lauer lagen.

Wohl nie zuvor sei ein Krieg geführt worden, bei dem "eine Seite ständig die wichtigen Geheimmeldungen von Heer und Flotte des Gegners gelesen hat", schrieb einer der Code-Knacker von Bletchley Park, der britische Schachmeister Philip Stuart Milner-Barry, in seinen Erinnerungen. Er war zusammen mit seinem Freund Hugh Alexander, dem damals amtierenden britischen Schachmeister, vom Mathematiker Gordon Welchman für Bletchley Park angeworben worden. Welchman sollte neben Turing der führende Kopf der Code-Knacker werden. Milner-Barry war ab 1940 Chef von "Baracke 6" - "Hut Six" -, in der die Funksprüche der Enigma I für Heer und Luftwaffe dechiffriert wurden. In "Baracke 8" mühten sich derweil Alan Turing und seine Mitarbeiter mit den Texten der Enigma-Typen M3 und M4 ab.

Turing selbst war übrigens der Radfahrer mit der Gasmaske gewesen. Er litt unter starker Pollen-Allergie und hatte auf diese eigentümliche Weise eine wirkungsvolle Abhilfe für seine Beschwerden gefunden. Der geniale Turing, der ab 1948 an der Universität in Manchester lehrte, wo auch sein Bronze-Denkmal auf einer Parkbank sitzt, schrieb das erste anspruchsvolle Schachprogramm für einen Computer - den es in dieser Leistungsfähigkeit damals eigentlich noch gar nicht gab. Der Held von Bletchley Park, der entscheidend half, den Krieg zu gewinnen, wurde 1952 zur tragischen Figur.

Alan Turing starb eines bizarren Todes. Denn er wurde der Homosexualität beschuldigt, die damals verboten war, und deswegen auch verurteilt. Er musste sich entscheiden: Gefängnis oder Hormonbehandlung. Schweren Herzens entschied sich Turing für Letzteres, bekam aufgrund massiver Verabreichung von Östrogenen Brüste und fiel in eine tiefe Depression. Er starb 1954 an einem mit Zyanid vergifteten Apfel. Es war offenbar ein makaber inszenierter Selbstmord. Computer-Pionier Turing, nach dem Straßen und Gebäude der Universität Oxford benannt sind, liebte den Disney-Film "Schneewittchen und die sieben Zwerge" von 1937. Freunde erinnern sich, dass er immer wieder die Stelle zitierte, in der Schneewittchen in den vergifteten Apfel beißt.

Während des Krieges erfuhren die Deutschen niemals vom Programm "Ultra", das ihre Niederlage einleiten sollte. Die Sowjets dagegen wussten Bescheid. Ihnen war es gelungen, einen Agenten namens John Cairncross in Bletchley Park zu platzieren.

Der britische Kriegspremier Winston Churchill nannte die verschwiegenen Helden von Bletchley Park "meine Gänse, die goldene Eier legten und dabei niemals schnatterten". Und zu seinem König George VI. sagte der bärbeißige Politiker: "Es ist Ultra zu verdanken, dass wir den Krieg gewonnen haben." Jenen Männern und Frauen also, die sich in diesen Tagen vor 70 Jahren auf einem einsamen englischen Landsitz versammelten, um das Schicksal der Welt zu verändern.