Mit ihren Tasthaaren registrieren Seehunde die Wasserwirbel von Fischen über 40 Meter Distanz. Das und mehr zeigen Versuche am weltgrößten Forschungszentrum dieser Art.

Henry schwimmt auf Position. Meike Kilian streift ihm einen schwarzen Strumpf über Kopf und Augen. Dann setzt sie ihm orangefarbene Kopfhörer auf. Henry kann jetzt weder sehen noch hören. Kilian setzt einen Gummifisch ins Wasser, den eine Kollegin durch das Trainingsbecken zieht. Henry schwimmt los - und folgt ohne Zögern und absolut akkurat der feinen Spur, die der Fisch im Wasser hinterlassen hat. Wie aber gelingt ihm das ohne Sehen und Hören?

Hydrodynamische Spurverfolgung, so heißt dieses Experiment, ist einer der Schwerpunkte der Rostocker Robbenforscher. "Angefangen haben wir mit einem ferngesteuerten U- Boot, das zunächst schnurgerade durchs Becken fuhr", erzählt Biologe Sven Wieskotten. Später folgten Kurven und sogar komplexe Manöver - jedes Mal gelang es den maskierten Robben, den Spuren problemlos zu folgen. "In einer nächsten Etappe ist ein Artgenosse vorausgeschwommen. Und jetzt sind wir gerade bei der schwierigen Aufgabe, Regenbogenforellen so zu trainieren, dass sie von A nach B schwimmen und dabei nach Möglichkeit nicht gefressen werden."

Das Geheimnis der Orientierungsfähigkeit haben die Forscher entschlüsselt: Es liegt im Bart mit seinen bis zu 40 Zentimeter langen Tasthaaren. Diese sogenannten Vibrissen sind leicht gebogen, haben eine wellenförmige Struktur und sehen damit wie lang gezogene Perlenketten aus. Sie sind eingebettet in stark durchblutete Follikel, die zehnmal sensibler sind als bei Ratten und auch in kaltem Wasser sehr empfindlich bleiben.

Mit diesen feinen dreidimensional-welligen Fühlern, die sich beim Schwimmen aufstellen, registrieren die Robben kleinste Wasserverwirbelungen und können Beutefische bis in 40 Meter Entfernung wahrnehmen. Zugleich gelingt ihnen das Kunststück, die von ihnen selbst erzeugten Wirbelstraßen konsequent zu unterdrücken - sie reagieren also nur auf fremde Spuren. Dieses hochpräzise Messsystem ist besser als alles, was der Mensch bisher erfunden hat, und bei trübem oder dunklem Wasser unentbehrlich.

Wie sich Robben orientieren, wie ihre Sinnesorgane zusammenwirken und deren Informationen verarbeitet werden, sind Fragen, denen die auf diesem Gebiet führende Arbeitsgruppe von Professor Guido Dehnhardt seit mehr als zehn Jahren nachgeht. Zunächst im Zoo von Köln, seit Juni im neu geschaffenen "Marine Science Center" der Universität Rostock.

Das durch ein robustes Netz abgegrenzte, 60 mal 30 Meter große und sechs Meter tiefe Stück Ostsee im Yachthafen Hohe Düne ist die weltweit größte Anlage ihrer Art. Mit idealen Bedingungen für das Team aus Biologen, Physikern, Psychologen, Veterinären und für die neun "wissenschaftlichen Mitarbeiter" Filou, Moe, Sam, Bill, Nick, Luca, Malte, Henry und Marko im Alter von drei bis 26 Jahren. Als eigentliche Forschungsstation dient ein ehemaliges Fahrgastschiff der Berliner Weißen Flotte, das in einer Werft in Polen komplett entkernt und in Rostock zum wissenschaftlichen Arbeitsplatz umgebaut wurde. Auf dem Sonnendeck können Besucher Robben und Forschern beim Training zuschauen.

"Der Seehund ist Teil unseres Ökosystems und je mehr man über ihn weiß, desto besser kann man ihn schützen", beschreibt Biologin Nele Gläser den Nutzen der Forschung. Zudem ließen sich aus dem Verhalten der Seehunde Rückschlüsse ziehen auf die Orientierungsleistungen anderer Meeressäugetiere. Und nicht zuletzt sind die Erkenntnisse spannend für die Bionik; so könnte "das einzigartige Strömungsverhalten der Vibrissen-Struktur hochinteressant sein für den Bau von Brückenpfeilern, Fundamenten von Offshore-Windkraftanlagen oder für die Unterwasser-Robotik."

Für ihre Doktorarbeit erforscht Nele Gläser, wie sich Seehunde im offenen Meer orientieren, wie sie sich nach dem Sternenhimmel richten und dabei sowohl Wasseroberfläche als auch Meeresboden als horizontale Referenzebenen nutzen. Kollegin Christine Scholtyßek wiederum untersucht das Sehvermögen der Robben, zum Beispiel wie gut sie Helligkeiten unterscheiden können. Auf das Kommando "Station" rutscht Luca in die Dunkelkammer, steckt Nase und Augen durch einen Metallring. Dadurch wird sein Blick auf eine schwarze Projektionsfläche mit bunten Kreisen fixiert. Jetzt muss er entscheiden, welcher der beiden Kreise heller ist. Dazu drückt er entweder links oder rechts auf einen gelben Ball. Liegt Luca richtig, gibt es Fisch. Liegt er falsch, muss er warten bis zum nächsten Bild.

Irgendwann wird es für die Rostocker Robben hinausgehen aufs offene Meer. Doch dazu sind noch viele Trainingseinheiten nötig. "Zunächst müssen wir die Tiere daran gewöhnen, auf ein Boot zu gehen, dessen Geräusche und Bewegungen und überhaupt erst mal Wellen kennenzulernen", sagt Nele Gläser. Sie müssen mit Sendern, Sensoren und Kameras bestückte Geschirre tragen können. Und nicht zuletzt müssen Rückrufsignale trainiert werden, damit keiner stiften geht: "ein Geräusch auf gut hörbarer Frequenz, das für die Robben Weihnachten und Ostern zugleich bedeutet, sprich eine höchst attraktive Belohnung in Form von Fisch".

Die Station im Internet: www.marine-science-center.de