In Europa sind 88 Prozent der Bestände überfischt. Experten zeigen, wie das Meer schonender genutzt werden kann.

Europas Fischwelt geht es besonders schlecht. Während im Weltdurchschnitt 28 Prozent der Bestände als überfischt gelten (weitere 52 Prozent werden bis an ihre Kapazität genutzt), sind es in europäischen Gewässern 88 Prozent. Beispiel Kabeljau: In der Nordsee besteht der Fang zu 93 Prozent aus Jungfischen, die sich noch nicht einmal fortgepflanzt haben, stellt das Bundesamt für Naturschutz (BfN) fest.

"Für die Fischbestände vor unserer Haustür ist es vielerorts bereits fünf vor zwölf, und es besteht dringender Handlungsbedarf, die Fischerei endlich effektiv zu regulieren", betont BfN-Präsidentin Prof. Beate Jessel. Wie das geht, beschreibt das Positionspapier "Ökosystemgerechte, nachhaltige Fischerei" aus ihrem Hause, das kommende Woche veröffentlicht wird, dem Abendblatt aber schon vorliegt.

Die wichtigste Forderung lautet: Die viel zu hohen Fangquoten und technischen Kapazitäten müssen an die geringeren Fischressourcen angepasst werden. "Die Überkapazität der Fangflotte übt einen Druck auf die Fischbestände aus, der zwei- bis dreimal über dem nachhaltigen Nutzungsniveau liegt", heißt es in dem BfN-Papier. Zwar habe die EU längst beschlossen, Tonnage und Motorleistung der EU-Fangflotte abzubauen, doch wurde dies aufgrund einer "fehlgeleiteten Subventionspolitik" durch technische Fortschritte wie effektiveres Fanggeschirr und elektronische Fischsuchgeräte mehr als kompensiert.

Die EU-Kommission will die Fehler der Vergangenheit nun korrigieren. Sie hat ein Grünbuch verfasst, das die Missstände der europäischen Fischereipolitik aufzeigt und damit die Basis bildet für eine Reform dieser Politik, die bis zum Jahr 2012 verabschiedet sein soll.

Von ihr erhofft sich das BfN restriktivere Fangquoten. In der Vergangenheit lagen sie regelmäßig 30 bis 50 Prozent über den wissenschaftlichen Empfehlungen des Internationalen Rates für Meeresforschung (ICES) und waren "stärker durch sozioökonomische und politische Faktoren beeinflusst als durch ökologische Notwendigkeiten", kritisiert das Fachamt mit Blick auf die starke Fischerei-Lobby in Ländern wie Spanien, Frankreich, Dänemark.

Nicht nur Speisefische leiden unter der schlagkräftigen Fangflotte, auch andere Meeresbewohner und -lebensräume. Beim Schollen- und Krabbenfang geht bis zu 90 Prozent fremdes Getier in die am Boden entlang schleifenden Netze: kleine Fische verschiedener Arten, Muscheln, Krebse, Seesterne. Besonders verheerende Baumkurren beschweren die Schleppnetze. Sie wiegen bis zu 19 Tonnen und dringen bis zu acht Zentimeter tief in den Meeresboden ein.

Alle Lebewesen, für die der Trawler keine Fangquote hat, müssen nach heutigem Recht wieder über Bord geworfen werden, sogar Speisefische. Meist sind sie dann bereits tot. Die einzigen Nutznießer dieser Verschwendung sind Möwenschwärme, die die Kutter umgeben. Dagegen schreibt das Nicht-EU-Land Norwegen vor, alle Fische, für die der Trawler eine Quote hat, anzulanden - auch zu kleine Exemplare und Arten, deren Quote bereits ausgeschöpft ist. Bei Letzteren wird der Fang auf die Quote des Folgejahres angerechnet. Umweltschützer und das BfN fordern sogar, sämtliches Meeresgetier anlanden zu lassen, das in die Netze ging - wenn ein großer Beifanganteil den Laderaum verstopft, erhöht das den Druck, mit selektiveren Fangmethoden zu arbeiten.

Zudem sollte ein globales, gut überwachtes Netz von Schutzgebieten der Meeresfauna Rückzugsgebiete schaffen. Hier dürfte Fischfang allenfalls erlaubt sein, wenn er die Umwelt kaum stört. Diese Voraussetzung erfüllen Fischfallen, etwa trichterförmige Netze. Sie verhindern zumindest, dass sich tauchende Seevögel oder Schweinswale in ihnen verheddern. Aber selbst in den deutschen Schutzgebieten sei die Fischerei nach wie vor kaum beschränkt, kritisiert Beate Jessel und nennt dies "einen völlig unbefriedigenden Zustand".

In besonders sensiblen Lebensräumen, etwa den Seebergen und Kaltwasserkorallen der Tiefsee, sollte die Fang komplett verboten werden, fordert das BfN-Papier. Zudem müsste mehr geforscht werden zu den Folgen der Fischerei für Tier- und Pflanzenarten, die nicht kommerziell verwertbar sind. Wer die Meere schützen möchte, muss die gesamte Lebensgemeinschaft im Blick haben, mahnen die Naturschutzexperten. Schließlich sind die Ozeane weit mehr als ein großflächiges Aquarium für Speisefische.