Seit 70 Jahren sucht eine Studie der Harvard-Universität eine Antwort auf die Frage: Was macht ein zufriedenes Leben? Eine Glücksformel gibt es jedenfalls nicht.

Gibt es eine Formel für ein gelungenes Leben? Wie muss er zusammengesetzt sein, dieser Mix aus Liebe, Beruf, Freundschaft, Gesundheit, effektiver psychischer und sozialer Anpassung, damit wir sagen können, unser Leben sei gut und verlaufe erfolgreich? Gibt es Wege, die man einschlagen soll, führen Verhaltensweisen und familiäre oder genetische Ausstattungsmerkmale zu einem erfüllteren oder besseren, jedenfalls zu einem von uns subjektiv als glücklich empfundenen Leben?

Die Antwort lautet ganz klar: Nein. Ganz einfach, weil es zu viele Unwägbarkeiten und Widersprüche, verschiedenste persönliche Einflüsse auf ein Leben gibt und vor allem unterschiedliche Möglichkeiten, mit Ereignissen umzugehen. Einen Plan für ein "erfolgreiches Leben" kann man daraus nicht ableiten.

All das belegt eine amerikanische Langzeitstudie - die Grant-Studie, die seit mehr als 70 Jahren von Mitarbeitern der amerikanischen Elite-Universität Harvard an 268 Männern durchgeführt wird. Nie hat es eine länger andauernde und gründlichere Untersuchung gegeben, die sich so detailliert mit der psychischen und physischen Gesundheit ein und derselben Personengruppe beschäftigt. Erste Ergebnisse wurden jetzt in der Zeitschrift "The Atlantic" dokumentiert.

1938 war Arlie Bock, Leiter der Health Services, des Gesundheitsdienstes in Harvard, auf die Idee gekommen, sich ausnahmsweise einmal nicht um die Kranken, sondern um die Gesunden zu kümmern. Er hatte für sein Institut eine Spende des Kaufhausbesitzers und Philanthropen William T. Grant erhalten und 268 in jeder Hinsicht gesunde, stabile junge Männer - ausschließlich Männer! - für eine Studie ausgesucht. Die Probanden wurden auf jede erdenkliche Art befragt und vermessen, inklusive ihrer Hirnströme. Jedes Organ wurde untersucht, Blut-, Fett- und Milchsäurewerte genommen. Ihre Familien wurden über Krankheiten befragt und mussten Auskunft geben, ob der Junge ein Bettnässer gewesen war oder ob er jemals psychische Auffälligkeiten gezeigt hatte. Die Studenten mussten regelmäßige Untersuchungen über sich ergehen lassen. Alle zwei Jahre gab es psychologische Tests, alle fünf Jahre Gesundheitschecks und alle 15 Jahre Befragungen zur Lebenssituation, zu Ehe, Familie, Freundschaften und zur beruflichen Entwicklung. Jahr für Jahr werden 268 Lebensgeschichten fortgeschrieben.

Wie sich später zeigte, kandidierten vier der Testpersonen für den US-Senat, einer wurde ein erfolgreicher Schriftsteller (dass es sich um Norman Mailer handelt, wurde dementiert), ein anderer sogar Präsident der USA. Es war John F. Kennedy.

Die Grant-Studie ist eine Jahrhundertstudie. Mit ihren Ergebnissen konnte man belegen, was schon andere, weniger faszinierende Lebens(ver)laufstudien herausfinden wollten. Zum Beispiel, dass sieben Faktoren dazu führen, dass man überhaupt gesund alt werden kann: nicht rauchen. Gesundes Gewicht halten. Wenig Alkohol trinken. Regelmäßig in Bewegung bleiben. Eine feste Liebesbeziehung haben. Reifer Umgang mit emotionalen Konflikten. Lebenslange, gute (Aus)Bildung.

Wer im Alter von 50 Jahren fünf oder sechs dieser Faktoren erfüllt, hat eine 50-prozentige Chance, im Alter von 80 Jahren zu jenen zu gehören, denen es gesundheitlich gut geht und die glücklich sind. Vom Durchschnitt der männlichen Amerikaner, die in den 20er-Jahren geboren sind, erreichen überhaupt nur 30 Prozent ihren 80. Geburtstag.

Jeder Mensch, bestätigt die Studie, hat nun aber eine Vielzahl von Charaktereigenschaften, Angewohnheiten und Verhaltensmustern, die er miteinander kombiniert. Wer sich in einer Situation sorgsam und akribisch zeigt, kann in einer anderen Situation sorg- und verantwortungslos reagieren. Wann etwas bewusst oder unbewusst, erlernt oder abgeschaut zum Zuge kommt und unsere Entscheidungen beeinflusst, kann man nicht einmal ansatzweise ergründen. Die Unvollkommenheit des Menschen lässt sich nicht wie in einer Werkstatt reparieren.

Es gibt auch erstaunliche Ergebnisse dieser Studie. Etwa, dass bei einer anderen gleichzeitig begonnenen Untersuchung an jungen Männern aus benachteiligten Wohngebieten, der "Glueck-Studie", der körperliche Zustand der 68- bis 70-Jährigen dem der 78- bis 80-Jährigen der Grant-Studie entspricht. Zehn gesunde Lebensjahre also hatten die Studierten im Vergleich zur anderen Gruppe gewonnen. Die geschenkten Jahre seien weitgehend auf Ernährungs-, Alkohol- und Nikotingewohnheiten zurückzuführen, hieß es.

Es ist zwar relativ klar, dass es zentrale Momente im Leben gibt, die den weiteren Verlauf maßgeblich beeinflussen. Entscheidend ist aber wohl, wie jemand auf lange Sicht auf einschneidende Erlebnisse reagiert. Depressionen sind der einflussreichste Faktor für körperliche Beschwerden im Alter. Wer als junger Mensch viel Sport treibt, bleibt im Alter nicht unbedingt körperlich gesünder. Wohl aber mental. Von den Männern, die mit 50 Jahren depressiv waren, waren im Alter von 63 Jahren 70 Prozent chronisch krank oder bereits gestorben. Eine grundlegende optimistische Lebenseinstellung ist also sehr hilfreich für ein als gelungen empfundenes Leben. "Wie wir uns fühlen", so der aktuelle Leiter der Studie, George Vaillant (75), "hängt davon ab, was wir tun. Ebenso stark beeinflussen unsere Gefühle unser Tun." So ist auch zu erklären, dass selbst die, die unter besten Bedingungen ins Leben starten, genauso scheitern können wie alle anderen.

Dabei hatten die Männer dieser Studie zu Beginn der Untersuchungen, 1938, die allerbesten Voraussetzungen dafür, dass sich ihre aussichtsreichen Lebensläufe optimal entwickeln konnten. Sie waren Harvard-Studenten, Mitglieder der ältesten amerikanischen und einer der weltweit angesehensten Universitäten, sie waren intelligent, sportlich, gesund, ehrgeizig, idealistisch, talentiert, in jeder Hinsicht vielversprechend. Aber die Herkunft, ergab die Studie, ist eben nicht entscheidend für ein gelungenes Leben, sondern Bildung.

Tatsächlich entwickelten sich die Männer anfangs wie vorhergesehen. Ihre Leben lagen offen wie unter einem Mikroskop. Doch kaum einer von ihnen entwickelte sich so, dass man es als "normal" im Sinne von durchschnittlich hätte betrachten können. Bereits fünf Jahre nach Beginn der Studie litten 20 Teilnehmer unter ernsthaften psychischen Problemen. Im Alter von 50 Jahren war es ein Drittel. Viele hatten beruflich Karriere gemacht, waren emotional aber erstarrt, ohne Anbindung ans wahre Leben. Außer Kennedy blieben fast alle Teilnehmer ihr Leben lang anonym. Nur manchmal sickerten Namen durch. So wurde bekannt, dass auch Ben Bradlee dazugehörte, der langjährige Chef der "Washington Post".

George Vaillant, der seit 42 Jahren die Studie leitet, interessierte weniger die Frage, wie viele oder wie wenige Probleme diese Männer in ihren Leben hatten. Er wollte wissen, wie sie mit diesen Problemen umgingen, wie sie unbewusst auf Schmerz, Konflikte, Unsicherheit reagierten. Es ging um sogenannte Abwehrmechanismen, die Anna Freud nach der Lehre ihres Vaters Sigmund Freud so formulierte: "Es sind unbewusste Gedanken und Verhaltensweisen, die die Wahrnehmung eines Menschen formen oder verformen." Also: Wie reagiert ein Mensch? Die ungesündeste Reaktion wäre "psychotisch", also Paranoia oder Größenwahn. Sie käme jedem verrückt vor. Als Nächstes gäbe es die "unreif" genannte Reaktion, die aus Verstellung, Fantasien oder Selbstaggression besteht. Dann gibt es die "neurotische" Reaktion, die sehr weit verbreitet ist. Man unterdrückt etwas oder intellektualisiert es. Gesund wäre eine "reife" Reaktion, die mit Altruismus, Humor oder Sublimation einhergeht, also etwa wenn man Aggressionen durch Sport löst und seine Gefühle steuern kann.

Nun dürfen Kleinkinder durchaus "psychotisch" reagieren, auch junge Menschen dürfen unreif sein - alles zu seiner Zeit. Die Grant-Studie hat bewiesen, dass jene Menschen, die sich zufrieden und glücklich fühlten, viermal so häufig Probleme "reif" zu lösen versuchten wie andere Menschen. Je älter die Teilnehmer wurden, desto stärker setzten sich Selbstlosigkeit und Humor durch.

Was bleibt aber am Schluss von dieser Studie? "Positive Gefühle wie Dankbarkeit, Mitgefühl, Hoffnung, Freude, Erstaunen oder Vertrauen beeinflussen unser Leben auch positiv", sagt George Vaillant.

Entscheidend für ein gelungenes Leben sind eben nicht intellektuelle Fähigkeiten oder der Sozialstatus. Vaillant, der jahrzehntelang Menschen vermessen, untersucht und befragt hat, hat nur eine Antwort: "Das Einzige, was im Leben wirklich zählt ist Liebe, sind deine Beziehungen zu anderen Menschen."