Nervenzellen im Rückenmark wuchsen nach - dank elektrochemischer Stimulation und Training. Übertragbarkeit auf den Menschen völlig offen.

Lausanne. Querschnittgelähmten Menschen wieder auf die Beine zu helfen - davon träumen Ärzte seit jeher. Neurowissenschaftler aus der Schweiz sind diesem Ziel jetzt womöglich einen bedeutenden Schritt nähergekommen: In Experimenten mit an den Hinterbeinen gelähmten Ratten gelang es ihnen, die Tiere durch eine elektrochemische Stimulation des Rückenmarks und mithilfe eines neuartigen Roboteranzugs zum Laufen zu bringen.

Das Besondere gegenüber früheren Studien ist, dass die Ratten schon nach kurzer Zeit die willkürliche Kontrolle über ihre Bewegungen zurückerlangten; einige hätten bald sogar rennen und Treppen steigen können, berichten die Forscher um Professor Grégoire Courtine vom Swiss Federal Institute of Technology in Lausanne (EPFL) im Fachjournal "Science". Durch die Therapie seien neue Nervenverbindungen im Rückenmark gewachsen, die Bewegungsfähigkeit der Hinterbeine sei vollständig wiederhergestellt worden. Die Forscher planen, in ein bis zwei Jahren mit klinischen Studien zu beginnen, um herauszufinden, ob das Verfahren in leicht veränderter Form auch beim Menschen funktioniert.

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Das Rückenmark ist die Brücke zwischen Denken und körperlichem Handeln, es verbindet das Gehirn mit dem peripheren Nervensystem. Ausgehend von unserem Denkorgan münden Nerven in die Wirbelsäule, wo Tausende von Nervensträngen in einem Kanal verlaufen. Diese zentrale Datenleitung ist nach vorne begrenzt durch Wirbelkörper und nach hinten durch Wirbelbögen. Auf der Höhe jedes Wirbelkörpers treten Nervenstränge aus und verzweigen sich. An ihnen entlang gelangen Signale in Form von elektrischen Impulsen und chemischen Botenstoffen in die Organe und bis in die Fingerkuppen und Fußspitzen. Ist das Rückenmark geschädigt, erhalten die entsprechenden Körperteile keine Signale mehr - Lähmungen sind die Folge.

Die Botenstoffe, sogenannte Monoamine wie Dopamin und Serotonin, docken im Rückenmark normalerweise an sogenannten Rezeptoren an. Das kann man sich vorstellen wie einen Schlüssel, der ein Schloss öffnet. Erst danach kann die Weiterleitung des Signals erfolgen - hin zum Rezeptor der nächsten Nervenzelle. Unterhalb einer geschädigten Zone (Läsion) sind die Rezeptoren zwar noch vorhanden, aber untätig, weil bei ihnen keine Botenstoffe mehr ankommen. Diese schlummernden Zellen, das "Rückenmarks-Gehirn", hätten sie aufgeweckt, sagen die Schweizer Forscher.

Für ihre Studie durchtrennten sie bei zehn Ratten das Rückenmark an zwei Stellen jeweils zur Hälfte: auf der Höhe des Brustwirbels T7 von links bis in die Mitte und auf Höhe des Brustwirbel T10 von rechts bis zur Mitte. "Insofern war die Verbindung zum Gehirn unterbrochen, aber es gab eine Brücke aus intaktem Nervengewebe dazwischen", erläutert die Neurowissenschaftlerin Janine Heutschi, die mit ihrer Kollegin Rubia van den Brand die Versuche durchführte. Nach dem Eingriff ließen die Forscherinnen die Tiere zur Erholung eine Woche in Ruhe. Anschließend begann ein achtwöchiges Rehabilitationsprogramm.

Die Tiere bekamen an sechs Tagen pro Woche zunächst Monoamin-Agonisten gespritzt, Substanzen, die die Botenstoffe Dopamin und Serotonin imitieren und an den passenden Rezeptoren andocken. "Die Injektion wirkt zwar auf den ganzen Körper, aber wir machen sie uns für die geschädigte Region zunutze", erläutert Heutschi. Kurz nach der Injektion stimulierten die Forscherinnen die äußerste Schicht des Rückenmarkkanals mit leichten Stromstößen. Diese seien für die Tiere nicht spürbar. Dadurch würden fortwährend elektrische Signale an die chemisch angeregten Nervenzellen gesandt, welche die Bewegung der Beine steuerten, so Heutschi.

30 Minuten nach der elektrochemischen Stimulation streiften die Forscherinnen den Ratten einen eigens konstruierten Roboteranzug über. "Er entlastet die Ratten von ihrem Körpergewicht, schränkt sie aber nicht in ihrer Bewegung ein und führt auch selbst keine Bewegung aus. Er folgt der Ratte nur passiv", erläutert Janine Heutschi. "Das Tier muss sich also willkürlich bewegen." Um die Ratten dazu zu bringen, lockten die Forscherinnen sie mit einem Stück Schokolade. Nach zwei Wochen geschah etwas, dass Heutschi als "absolut verblüffend" bezeichnet: "Die Ratten taten ihre ersten willkürlichen Schritte. Man sah richtiggehend, wie erstaunt sie selbst darüber waren. Sie wurden dann immer besser, sodass einige von ihnen bald sogar rannten."

2009 hatte der Leiter des Teams, Grégoire Courtine, herausgefunden, dass an den Hinterbeinen gelähmte Ratten dank dieser Stimulation auf einem Laufrad gehen konnten - aber nur, weil das Laufrad eine sensorische Rückmeldung bewirkte, die eine Gehbewegung auslöste. Die Tiere konnten ihre Bewegungen nicht bewusst steuern, weil die Verbindung zwischen Gehirn und Hinterbeinen getrennt blieb. Womöglich, so vermuteten die Forscher, würde ein sehr schwaches Signal vom Gehirn ausreichen, damit sich die Tiere willensgesteuert bewegten. Um diese Theorie zu überprüfen, ersetzten sie das Laufrad durch den Roboter, der die Ratten stützte und nur eingriff, wenn sie das Gleichgewicht verloren. Dadurch wurde ihnen suggeriert, ihr Rückenmark sei in Ordnung. "Dieses aus ihrer Sicht willensgesteuerte Training führte zu einer Vervierfachung der Nervenzellen im Gehirn und im Rückenmark", sagt Janine Heutschi.

Um zu beweisen, dass tatsächlich neue Nerven gewachsen waren, die die Schäden im Rückenmark überbrückten, spritzen die Forscherinnen den Ratten oberhalb der Läsion fluoreszierende Farbstoffe. Wenig später kamen diese unterhalb der geschädigten Zone an. Ob Stimulation und Training auch bei einer vollständigen Durchtrennung des Rückenmarks zu einem Wachstum neuer Nervenzellen führen würden, haben die Forscher nicht getestet.

Bei der geplanten klinischen Studie mit Menschen wollen die Schweizer auf die chemische Stimulation verzichten, um Nebenwirkungen zu vermeiden, und nur auf eine Kombination aus elektrischer Stimulation und Training setzen. Im vergangenen Jahr hatte ein anderes Forscherteam über einen 23 Jahre alten Querschnittgelähmten berichtet, der nach einer ähnlichen Behandlung für einige Minuten stehen konnte.

Ärzte und Forscher von anderen Einrichtungen loben die Arbeit der Schweizer, weisen aber auch auf Schwierigkeiten hin. "Das ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, der sicherlich Mut machen kann", sagt Dr. Roland Thietje, Chefarzt des Querschnittgelähmtenzentrums am Unfallkrankenhaus Hamburg-Boberg. Bei einem Drittel aller Patienten sei das Rückenmark nur teilweise durchtrennt, insofern ziele der Aufbau der Studie auf eine große Gruppe. Allerdings sei die bei den Ratten künstlich herbeigeführte Verletzung des Rückenmarks mit Verletzungen beim Menschen, die etwa durch Stauchungen oder Quetschungen entstünden, nicht vergleichbar. Fast die Hälfte aller Querschnittlähmungen entstehe durch Erkrankungen, etwa Tumore. Ohnehin seien Ergebnisse von Versuchen mit Laborratten nur "sehr eingeschränkt auf den Menschen übertragbar", unter anderem, weil es sich um sehr junge Tiere handele, die sich bei Verletzungen gut erholten.

Zudem verliefen bei Ratten bestimmte Nervenfasern im Rückenmark anders als beim Menschen, sagt Prof. Jan Schwab, Neurologe und Neurowissenschaftler an der Charité in Berlin. Da Ratten Vierfüßer seien, würden bei ihnen auch einige Bewegungen anders gesteuert. Er freue er sich aber über die "tolle Neuerung", sagt Schwab: "Das bringt uns voran."