In Hamburg legen acht Prozent der Neugeborenen einen Frühstart hin. Fachärzte erklären die Risiken und neue Behandlungsmethoden.

Hamburg. Sie haben winzige Hände und Füße und Organe, die oftmals noch nicht reif genug sind, um ihren Dienst im Körper ordnungsgemäß zu verrichten: Jährlich kommen weltweit rund 15 Millionen Kinder zu früh, das heißt vor Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche auf die Welt - ungefähr zehn Prozent aller Neugeborenen. Geschätzte 1,1 Millionen dieser Kinder sterben kurz nach der Geburt. Dieses ist das Ergebnis einer ersten umfassenden, internationalen Studie zum Thema Frühgeborene, die in dieser Woche von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben wurde. Im Gespräch mit dem Abendblatt schildern die führenden Hamburger Ärzte auf dem Gebiet der Neugeborenenmedizin (Neonatologie) unter anderem, wo die Hauptrisiken für Frühgeburten liegen und ob moderne Technik einen immer früheren Start ins Leben ermöglicht.

Rund 20 000 Geburten gibt es jedes Jahr in Hamburg, davon werden 15 Prozent der Neugeborenen (ungefähr 3000) in eine Kinderklinik verlegt. Nicht alle davon sind Frühchen: "Wir haben etwa bei acht Prozent der Geburten frühgeborene Kinder", sagt Dr. Reinhard Laux, Chefarzt der Neonatologie an der Asklepios-Klinik Barmbek. Die Gesamtzahl der Frühgeborenen weltweit wird in der aktuellen Studie mit zehn Prozent angegeben, die extrem leichtgewichtigen von ihnen machen dabei aber nur einen geringen Anteil aus. Laux: "In Hamburg haben wir im Jahr etwa 300 Neugeborene mit einem Geburtsgewicht von unter 1500 Gramm, und etwa 220 mit einem Gewicht unter 1200 Gramm."

Dies zeige, dass die extrem kleinen Kinder nur die Minderheit darstellen, auch wenn immer wieder von Rekorden in den Medien zu lesen sei - wie etwa über ein Kind, das nur 280 Gramm bei der Geburt wog, weniger als 22 Wochen im Bauch der Mutter war - und dennoch überlebt hatte, sagt Prof. Dominique Singer, Leiter der Neonatologie am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE). Dies seien jedoch Ausnahmebabys, und solche Einzelbeispiele täuschten über die große Anzahl von Kindern hinweg, die es zu solch einem Zeitpunkt nicht schafften. Bei einem Geburtsgewicht von 500 Gramm läge die Überlebensrate bei 50 Prozent, sagt Laux, bei 700 Gramm bereits bei 90 Prozent. "Es geht uns allen aber nicht darum, Rekorde zu brechen, sondern darum, möglichst vielen Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen", so sein Kollege Singer.

+++Alle 30 Sekunden stirbt auf der Welt ein Frühchen +++

Dass die Zahl der Frühgeborenen in den westlichen Ländern stetig ansteigt, bezeichnet der UKE-Neonatologe als "bemerkenswertes Phänomen", das sich nur begrenzt erklären lasse. Zum einen trage das zunehmend höhere Lebensalter der Mütter dazu bei, zum anderen der häufigere Einsatz von künstlicher Befruchtung. Hier sei die Hochphase der dadurch bedingten Mehrlingsgeburten zumindest in Deutschland jedoch überschritten, sagt Privatdozentin Dr. Elisabeth Raedler, leitende Oberärztin am Altonaer Kinderkrankenhaus: "Seit einigen Jahren gibt es hierzulande die Absprache unter den Reproduktionsmedizinern, nicht mehr als zwei befruchtete Eizellen einzusetzen. Das ist sehr zu begrüßen, denn die gesunden Lebenschancen von Mehrlingen gegenüber Einlingen sind deutlich geringer."

Für Frühgeburtlichkeit gibt es vor allem zwei medizinische Gründe: Infektionen und eine Mangelversorgung des Kindes in der Gebärmutter. Rauchen gehört zu den Risikofaktoren für diese Mangelernährung. Die größten gesundheitlichen Probleme, mit denen Frühchen zu kämpfen hätten, seien Hirnblutungen, Magen-Darm-Komplikationen, Lungenprobleme und Infektionen, sagt Dr. Axel Hennenberger, Leiter der Neonatologie am Katholischen Kinderkrankenhaus Wilhelmstift.

+++Riskanter Frühstart ins Leben+++

Ab wann nehmen die Ärzte den Kampf gegen diese Risiken auf? In Deutschland gilt die Empfehlung, Frühgeborene erst ab der 24. Schwangerschaftswoche (Ärzte sprechen von 24 Wochen plus 0 Tage) zu behandeln. Geburten in der 23. und 24. Schwangerschaftswoche gelten als Grauzone, in der mögliche Behandlungsversuche in enger Abstimmung mit den Eltern erfolgen. Bis zur 22. Schwangerschaftswoche plus sechs Tage wird empfohlen, nichts therapeutisch zu unternehmen, sondern sterbebegleitend tätig zu werden. Auch angesichts rasanter technischer Fortschritte hätten diese Empfehlungen Bestand, sagt Prof. Singer, denn: "Es gibt eine biologische Grenze der Lebensfähigkeit." Diese sei hauptsächlich die Fähigkeit der Lunge zum Gasaustausch, also Sauerstoff aufzunehmen und Kohlendioxid abzuatmen.

Doch es ist nicht die Lunge alleine und auch nicht der Reifezustand der Gesamtheit der Organe, der darüber entscheidet, ob ein Frühgeborenes eine Chance hat oder nicht. "Früher haben wir noch rein auf die Organe geachtet. Heute schauen wir ganzheitlich, ob das Kind eine Chance auf ein gesundes Leben hat", sagt Dr. Bernd Hinrichs, Chefarzt der Abteilung für Kinder- und Jugendmedizin in der Helios-Mariahilf-Klinik. Wie diese Chancen aussehen, können die Ärzte über die Behandlungszeit im Krankenhaus hinaus beurteilen: Mindestens zwei Jahre lang werden Frühgeborene bei Nachuntersuchungen betreut. Dabei hat sich gezeigt, dass Kinder mit einem Geburtsgewicht unter 1000 Gramm einen um acht Prozent schlechteren Entwicklungsquotienten hätten als normale Kinder. Dieses würde sich in Lungen- und Atemwegsproblemen, in Wahrnehmungsschwierigkeiten, aber auch in einem niedrigeren Intelligenzquotienten zeigen. "Zudem scheint es mehr hyperaktive Kinder unter den Frühchen zu geben", sagt Dr. Laux.

+++Bildungsgrad der Eltern hat Einfluss auf Frühchen+++

Die Ansicht, dass frühgeborene Mädchen bessere Chancen als Jungen haben, ist übrigens belegt: "Die Chancen stehen 55 zu 45 zugunsten der Mädchen, das hängt mit dem unterschiedlichen Hormonhaushalt und Stoffwechsel zusammen", sagt Hinrichs. Egal welches Geschlecht, die Behandlung der Frühchen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt. "Wir praktizieren heute eine sogenannte entwicklungsfördernde Pflege", sagt Dr. Elisabeth Raedler. Das heißt grob vereinfacht: Weg von der Übertechnisierung, hin zur Zuwendung. Alle Monitorgeräusche im Umfeld der Babys werden abgeschaltet, Inkubatoren gegen zu helles Licht abgedeckt und die Frühchen für Behandlungen wie Blutabnahmen nicht extra aufgeweckt.

"Früher wurde auch schneller intubiert, heute gucken wir, ob das Lütte alleine schnaufen kann", sagt Dr. Hennenberger. So würden Verletzungen durch die künstliche Beatmung vermieden. Zudem würde der Körperkontakt mit den Eltern durch das sogenannte Känguruing gefördert: Ab dem dritten oder vierten Tag werden die Frühchen ihren Eltern auf den Bauch gelegt.

Eine Entwicklung, die allen Ärzten Sorge bereitet, ist das Auftreten von multiresistenten Krankenhauskeimen. Im Klinikum Bremen-Mitte waren im Februar erneut zwei Frühchen daran gestorben. "Der zu starke Antibiotika-Gebrauch spielt dabei eine große Rolle, vor allem in den Mittelmeeranrainerstaaten", sagt Dr. Laux. Um das Infektionsrisiko von Frühgeborenen zu minimieren, hat die Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention im Januar eine Empfehlung herausgegeben, Kinder mit einem Geburtsgewicht unter 1500 Gramm grundsätzlich und nicht erst im Fall einer Infektion auf multiresistente Erreger zu untersuchen.

Und noch ein weiteres Thema beschäftigt die Neonatologen aktuell. Derzeit wird in Deutschland darüber gestritten, ob Kinder mit einem Geburtsgewicht unter 1250 Gramm nur in Kliniken behandelt werden dürfen, die mindestens 30 Fälle (anstatt 14) pro Jahr aufnehmen. Der Gemeinsame Bundesausschuss hatte beschlossen, die bisherige Mindestmenge anzuheben. Nach einer Klage von zahlreichen Krankenhäusern hatte das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg diese Neuregelung im Dezember 2011 jedoch gekippt; ein Revisionsverfahren vor dem Bundessozialgericht steht nun aus.

Nach Angaben von Uwe Thiede, Sektionsleiter Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin an der Asklepios-Klinik Nord Heidberg-Ochsenzoll, gehörte auch seine Klinik zu den Klägern: "Wir sind zwar ein kleines Perinatalzentrum, halten aber eine Ausstattung wie ein großes Zentrum vor." Dazu gehöre etwa die Betreuung von Kindern, die vor der 28. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen. Im Jahr 2011 erblickten dort laut Thiede 1600 Kinder das Licht der Welt, davon wogen 32 Kinder weniger als 1500 Gramm. "Die Zahlen schwanken jedoch, das A und O bei uns ist die Verhinderung von Frühgeburten." Er und seine Kollegen müssen nun abwarten, wie das Bundessozialgericht entscheidet.