San Francisco/Berlin. Twitters 140-Zeichen-Limit gilt nicht mehr: Wie das Netzwerk das erklärt, was Twitter-Urgesteine sagen – und wie man sich wehren kann.

Es war erst eine technische Notwendigkeit, dann das Markenzeichen – und jetzt ist es Geschichte: Twitters 140-Zeichen-Limit ist am Dienstag um 22 Uhr gefallen. In fast allen Ländern der Welt können nun auf twitter.com und im Tweetdeck bis zu 280 Zeichen geschrieben werden, mit Apps, wenn sie aktualisiert sind. Was macht das mit dem Netzwerk, das als Kurznachrichtendienst bekannt wurde?

Womit begründet Twitter den Schritt?

Twitters Analysen haben nach Angaben des Unternehmens ergeben, dass Nutzer oft viel Zeit mit Kürzen verbringen oder Tweets gleich verwerfen. „Wir hören genau auf die Bedürfnisse der Community und lösen hier ein Problem, dass viele kennen”, heißt es von Twitter-Deutschland-Chef Thomas de Buhr. Bei einem 280-Zeichen-Test mit einer kleinen Gruppe internationaler Nutzer sei das Problem „deutlich reduziert“ worden.

Warum gibt es dennoch Bedenken?

„Da ich keine Zeit hatte, Dir einen kurzen Brief zu schreiben, schreibe ich Dir einen langen“, entschuldigte sich Goethe bei seiner Schwester: Viele Nutzer mögen, dass man in Tweets nicht „labern“ kann – oder vertreten das zumindest. Außerdem gibt es da die praktische Befürchtung: Wenn Tweets reihenweise viel länger sind, muss man mehr scrollen, um die gleiche Zahl Tweets zu sehen.

Wie berechtigt sind die Bedenken?

Intensiv-Nutzer haben in der Vergangenheit schon häufiger mit Unmut auf Änderungen wie das Ersetzen der Sterne durch Herzen reagiert – und sind doch treu geblieben. Auch jetzt werden wenige Twitterer wohl Konsequenzen ziehen. Das Nutzungserlebnis wird auch hier davon abhängen, wem man folgt – und wie exzessiv diese Nutzer die neue Freiheit nutzen.

Twitter zumindest erklärt, in den Tests seien sehr lange Tweets die Ausnahme gewesen: Bei den 280-Zeichen-Testnutzern sei nur etwa jeder 50. Tweet länger als 190 Zeichen gewesen. Und: Für Chrome-Nutzer gibt es bereits eine Browser-Erweiterung „Block 280“, die zunächst nur 140 Zeichen anzeigt.

Wie lang sind Tweets bisher im Schnitt?

Jeder elfte in Englisch geschriebene Tweet kommt auf 140 Zeichen, in der Häufigkeit dann mit etwas Abstand gefolgt von Tweets mit 34 Zeichen. Für deutsche Tweets gab es von Twitter keine entsprechende Zahlen. In Japan sind Tweets mit einer Länge von 15 Zeichen am häufigsten, nur jeder 250. Tweets schöpft die 140 Zeichen voll aus.

Weil sich mit den asiatischen Zeichen viel mehr ausdrücken lässt, hält Twitter für japanische, koreanische und chinesische Tweets auch an den 140 Zeichen fest. Japan, wo sich in 140 Zeichen sehr viel ausdrücken lässt, ist Land mit der intensivsten Twitternutzung. Nach der Logik müssten Deutsche sogar noch mehr als 280 Zeichen bekommen: Ein inhaltlich gleicher Text ist auf deutsch oft mindestens 20 Prozent länger, auf französisch oder spanisch noch länger.

Was sagt ein 140-Zeichen-Virtuose zum Aus für das Limit?

Unter @tiny_tales zeigte der Regisseur Florian Meimberg meisterhaft, dass sich in 140 Zeichen sogar Kurzgeschichten erzählen lassen. Er wurde zum Inbegriff von „Twitteratur“, gewann den Grimme Preis und brachte das Buch „Auf die Länge kommt es an“ heraus. Zur neuen Textgrenze sagt er:

„Ihre extreme narrative Verdichtung haben die kleinen Geschichten groß gemacht. Und weit über das Twitter-Universum hinaus bekannt. Sie waren ein kreatives Experiment und hatten nach Grimmepreis, Buch und Auftritt in Stefan Raabs TV Total ihr Peak-Level erreicht, und ich habe das Projekt beendet. Aber wer weiß – vielleicht gibt es ja irgendwann die ‘Epic Tales’ – Literatur in 280 Zeichen … Hätte ich die Idee zur Mikro-Literatur auch gehabt, wenn die Grenze 280 Zeichen betragen hätte? Ich weiß es nicht.

Ich glaube aber: Je kürzer die Geschichte, desto größer ihre Wirkung. Persönlich finde ich es schade, dass die 140-Zeichen-Grenze erweitert wird. Zwingt doch die Begrenzung auch zur inhaltlichen Fokussierung. Auch hier gilt wie so oft: Weniger ist mehr!“

Was sagt eine Twitter-Expertin der ersten Stunde?

Nicole Simon müsste ihr 2009 erschienenes erstes deutsches Twitter-Handbuch „Twitter. Mit 140 Zeichen zum Web 2.0“ heute anders nennen. Im April 2008, am zweiten Geburtstag von Twitter, hatte die Berlinerin bereits 800 Follower – mehr als alle anderen Deutschen damals. Auf die Neuerung angesprochen sagt Simon:

„Als Viel-Twitterin, die interessante Links auch auf anderen Kanälen teilt, stoße ich oft an die Grenze von 140 Zeichen. Daher freue ich mich über etwas mehr Spielraum. Aber eigentlich ändert sich wenig. Es ist immer noch eine begrenzte Anzahl von Zeichen – aber jetzt kann man etwas flüssiger formulieren und muss nicht zwanghaft kürzen. Und bleiben wir realistisch: Andere Plattformen erlauben zwar mehr Zeichen beim Schreiben, aber im Newsfeed werden immer nur die ersten Zeilen angezeigt. Man muss klicken, dort um alles zu sehen.

Ich glaube, dass die meisten weiterhin „kurz“ tweeten werden, um gelesen zu werden. Ich werde es vermutlich dazu nutzen, etwas mehr Kontext zu tweeten. Und die Suche von Twitter wird profitieren, weil man bessere und mehr Hashtags verwenden kann, und Twitterchats müssen nicht krampfhaft kurze Hashtags finden. Die Welt wird also nicht untergehen – nur manch einer wird einen neuen Buchtitel finden müssen oder seine Webseite umbenennen. ;) “

Was sagt der deutsche Twitter-Entwickler?

Der heute 37-jährige Florian Weber war der erste Nutzer neben Twitter-Chef Jack Dorsey, er programmierte in den ersten beiden Jahren von Hamburg aus im Auftrag die Software und wurde Chefentwickler, wie erst Jahre später bekannt wurde. Tests mit anderen Längen gab es damals nicht, antwortete Weber auf eine entsprechende Frage. Denn: Bei dem zunächst „Twttr“ genannten Dienst ging es um Nutzung via SMS – und die sind 160 Zeichen lang. 20 waren als Reserve für Nutzernamen und Formatierung gedacht, blieben 140.

Vor ein paar Wochen beschwerte er sich scherzhaft über die Zeichen-Limit-Ungerechtigkeit – „sie ist real!“. Er war mit seinen beiden Accounts nicht in der Testgruppe, durfte nur maximal 140 Zeichen schreiben. Auf eine Anfrage unserer Reaktion zum Wegfall des Limits hat er bisher nicht geantwortet.

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Wie konterte der Twitter-Chef selbst Kritik?

Twitter-Chef Jack Dorsey wurde bei Bekanntwerden der Pläne mit einer Reihe von Einwänden konfrontiert: „Dann belass es doch bei 140“, entgegnete er jemandem, der ihm schrieb, seine besten Tweets seien die gewesen, die er in 140 Zeichen pressen musste. Die meisten Nutzer würden die Zeichen auch nicht ausschöpfen, der Schnitt werde sich vielleicht bei knapp über 140 einpendeln, schrieb er. Dorsey in einem anderen Tweet: „Worauf es jetzt ankommt, ganz klar zu machen, wieso diese Veränderung wichtig ist – und euch zeigen, dass es so besser ist.“

Ihm führte allerdings auch ein Nutzer deutlich vor, dass es knapp auch geht. Er strich seine Begründung, warum 280 Zeichen nötig sind, auf 140 zusammen – ohne große Probleme:

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Ist jetzt bei 280 Zeichen endgültig Schluss?

Es ist unwahrscheinlich, dass Twitter das Limit noch einmal hochschraubt. Am Samstag jagten zwei Deutsche manchen Nutzern einen echten Schreck ein: @Timrasett und @HackneyYT tricksten Twitters Adressverkürzer aus und schickten am Samstag dank einer Lücke in der Programmierung einen mehr als 30.000 Zeichen langen Tweet erfolgreich ab. Beide wollen Programmierfehler aufdecken. Beide wurden zunächst wegen „Spams“ gesperrt, sind aber nach Protesten zurück. An Monster-Tweets hat Twitter kein Interesse.

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