Berlin.

„Bleib bei mir.“ Diese Worte spricht Lavish Reynolds zu ihrem sterbenden Freund Philando Castile, der sich in blutdurchtränktem T-Shirt neben ihr auf dem Fahrersitz windet, während ein Polizist eine Pistole auf ihn richtet. Genauso hätte Reynolds damit aber auch die vielen Menschen meinen können, die diese Szene am Donnerstag von außen verfolgen. Live. Via Facebook.

In diesen Tagen wird uns besonders vor Augen geführt, welche Macht von Livestreaming-Diensten wie Facebook Live, Periscope oder YouNow ausgehen kann. Der Stream hat Reynolds nicht nur in die Lage versetzt, eine ungeheuerliche Tat zu dokumentieren und für alle Welt sichtbar zu machen, sie verbreitete sich nicht nur schneller als sie es mithilfe eines aufgenommenen Handyvideos gekonnt hätte – der Live-Charakter verlieh dem Inhalt zudem eine verstörend intime Dimension.

Auffällige Häufung von Live-Videos zu Verbrechen

„Ich wollte, dass es die ganze Welt mitbekommt“, sagte Reynolds noch am gleichen Tag während eines anderen Livestreams. Sie wollte das Verhalten des Polizisten dokumentieren. Insbesondere wohl nach Bekanntwerden des Todes von Alton Sterling einen Tag zuvor, der im US-Staat Louisiana ebenfalls von Polizisten erschossen wurde. Auch davon gibt es ein Video. Zwar nicht live, aber ebenfalls über die sozialen Medien verbreitet. Und schon am Freitag folgten die nächsten Live-Dokumente aus Texas, wo mehrere Polizisten auf einer Demo gegen Polizeigewalt getötet wurden.

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Facebook-Gründer Mark Zuckerberg zeigte sich in einer Mitteilung am Donnerstag bestürzt über Castiles Schicksal und sprach seiner Familie und all jenen, die Ähnliches erlebt haben, sein Beileid aus. Nicht allerdings ohne zuerst zu erwähnen, dass das Video via Facebook Live verbreitet wurde.

Facebook nimmt Video kurzfristig von der Seite

In den Kommentaren wird Zuckerberg dafür gelobt, was er mit dem sozialen Netzwerk geschaffen hat. „Deine Plattform verändert nicht nur die Unterhaltungswelt, sondern sie vergrößert dramatisch das Verhältnis der Menschen zur Macht“, schreibt etwa Nutzer Edward Craig: „Mark, das hast du gut gemacht. Danke, dass du den Ausgegrenzten eine Stimme gibst. Es war wirklich ein Tag, der die Geschichte verändert hat – dank Facebook.“

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Doch auch kritische Stimmen melden sich. Sie bemängeln, dass Facebook Reynolds Video gesperrt hat. Tatsächlich wurden die Aufnahmen vorübergehend von ihrer Seite genommen, eventuell weil Nutzer es als „explizit“ gemeldet hatten oder Facebook-Mitarbeiter selbst aktiv geworden waren. Laut der US-Technik-Website VentureBeat nannte das ein Sprecher des Unternehmens eine „technische Panne“. Das Video war wenig später wieder sichtbar. Außerdem teilte es Facebook auf seiner Newswire-Seite, inzwischen versehen mit der Warnung „Explizites Video“ und diesem Zusatz: „Videos mit expliziten Inhalten können schockieren, kränken und verärgern. Bist du sicher, dass du das sehen möchtest?“

Missbrauch der Live-Dienste noch zu wenig kontrolliert

Dass über die Live-Dienste nicht nur Profanes und Unverfängliches ungefiltert gesendet werden kann, stellt die Anbieter vor ein Dilemma. Einerseits können die Videos kraftvolle demokratische Werkzeuge sein, gar Beweismaterial für polizeiliche Ermittlungen, andererseits können die Dienste auch missbraucht werden – wie etwa vor wenigen Wochen, als ein Polizistenmörder in Paris Teile seiner Tat live auf Facebook übertrug und das Video auch zur Anstiftung für weitere Taten nutzte.

Gegen solche Exzesse scheinen die Dienstleister bisher noch keine wirksamen Mittel gefunden zu haben. Experten sind skeptisch, dass die Instrumente ausreichen. Facebook zum Beispiel setzt derzeit vor allem auf die Zusammenarbeit mit der eigenen Community. Die Nutzer sollen fragwürdige Fälle melden – ohne zu warten, bis das Video zu Ende spielt. Die gemeldeten Inhalte werden dann von einem weltweit agierenden Team gesichtet und gegebenenfalls gesperrt. Laut der Kommission für Jugendmedienschutz der Landesmedienanstalten hat Facebook auch externe Firmen mit der Moderation beauftragt. Rechtlich bedenkliche Inhalte werden Polizeibehörden und Staatsanwaltschaft gemeldet.

Experte: Plattformen haben gesellschaftliche Verantwortung

Theaterregisseur Moritz Riesewieck hat monatelang zur Moderation von anstößigen oder gewaltverherrlichenden Inhalten in sozialen Netzwerken recherchiert. Gegenüber unserer Redaktion sagte er: „Auch Videos werden von Content Moderators kontrolliert. Wie bei Fotos scannt eine Bilderkennungssoftware alle hochgeladenen Fotos und Videos, erkennt so grob etwa gewaltsame oder pornografische Bilder.“ Die Bewertung übernehmen dann wieder Menschen, die in ihren Schichten Tausende Nacktbilder oder Gewalttaten in Videos sichten müssen. Moritz Riesewieck hat während seiner Recherche mit den „Content Moderatoren“ gesprochen und sagt: „Laut Content Moderators ist Videos durchzuschauen schlicht noch belastender als bei Fotos.“

Auch Christian Neuberger, Kommunikationswissenschaftler an der LMU München, hält ausreichend Personal in der Moderation für wichtig. Gegenüber dem ARD-Nachtmagazin sagte er: „Wir wissen von den Hasskommentaren, dass es notwendig ist, dass da viele draufschauen. Und es ist sinnvoll, weil die Plattformbetreiber durchaus so was wie eine gesellschaftliche Verantwortung haben wie der Journalismus.“