Berlin. Viele Fußballteams setzen auf Big Data und die Hilfe von Statistikern. Sie wollen die Leistung steigern – und vermessen die Spieler.

Bayern München gegen Benfica Lissabon, VfL Wolfsburg gegen Real Madrid, Borussia Dortmund gegen Liverpool – auf europäischer Ebene steht dem deutschen Vereinsfußball eine Woche der Wahrheit bevor. Doch mit welchen Mitteln lässt sich Reals Abwehr knacken? Und greift Dortmund eher über die Flügel an oder durch die Mitte?

Viele Fans hätten diese Fragen früher aus dem Bauch heraus beantwortet. Heute geben Smartphones die Antwort: Über Positionsdaten lassen sich Laufwege verfolgen, die bevorzugten Angriffsrichtungen werden als Hitzediagramme präsentiert. Der technologische Fortschritt hat Fußballteams zwar nicht gläsern gemacht, sie werden aber wie in Computerspielen vermessen.

Immer mehr Analysen im Profifußball basieren Untersuchungen zufolge auf Tracking-Systemen, die die Laufleistung auswerten. Von dem Zahlendickicht versprechen sich die Teams Erkenntnisse, die dem Trainer-Auge sonst verborgen bleiben. „Aktuell befinden wir uns in einer Phase, in der der Nutzen von Big Data erkannt wird, aber sich manche dagegen noch sträuben“, sagt Daniel Memmert, Institutsleiter für Kognitions- und Sportspielforschung an der Deutschen Sporthochschule Köln (DSHS). Als erste Hochschule in Europa bietet sie den Masterstudiengang Spielanalyse an.

Ein Input, der Mathematik mit Sport kombiniert

In der Fußballbundesliga setzen vor allem jüngere Trainer auf eine Datenbasis. Dortmunds Trainer Thomas Tuchel gehört zu denen, die sich von Statistikern und Mathematikern inspirieren lassen. „Die wissenschaftliche Sicht auf das Spiel ist ein interessanter Input, der Mathematik mit Fußball kombiniert“, sagte Tuchel in einem Interview. Unsere verzerrte Wahrnehmung sei trügerisch, objektive Daten ermöglichten dagegen eine unabhängige Spielanalyse.

Seit vier Jahren zeichnen hochauflösende Kameras unter dem Stadiondach jedes Spiel der 1. und 2. Bundesliga auf. Pro Sekunde erfassen sie 25-mal die Positionsdaten der Spieler. Angaben zu Ballkontakten, Zweikämpfen, gelaufener Distanz werden live aufbereitet.

Die Spielanalyse in Deutschland hatte bereits um das Jahr 2000 einen Sprung gemacht: Hansi Flick, Chefcoach des damaligen Regionalligisten TSG Hoffenheim, sprach von der Bank Analysen in ein Diktiergerät. Währenddessen zeichnete ein Team von Wissenschaftlern der Kölner Sporthochschule das Training mit Videokameras auf und synchronisierte Ton- und Bildspur.

Hoffenheim gilt als Vorreiter der modernen Spielanalyse

Hoffenheim gilt als ein Vorreiter der modernen Leistungs- und Spielanalyse im deutschen Profifußball. „Wir waren mit die Ersten, die Analysen von Spielszenen für das Team strukturiert aufbereitet haben“, sagt TSG-Geschäftsführer Peter Görlich. Heute dokumentieren fünf Spezialisten das Training und fassen die Ergebnisse für Coach Julian Nagelsmann zusammen. „Es ist eine hohe Kunst, die verschiedenen Daten aufzubereiten, so dass daraus Informationen werden. Wir konzentrieren uns auf die wichtigsten Aspekte“, sagt Görlich. Denn Zahlen allein würden Trainern keine Entscheidung abnehmen.

„Allein durch die Vielfältigkeit der Daten wissen wir nicht mehr als vorher“, sagt DSHS-Sportwissenschaftler Ingo Froböse. Die Schwierigkeit sei, die Werte richtig zu interpretieren. Dafür seien ausgebildete Statistik-Profis nötig.

Für Sportspielforscher Memmert gehen die entscheidenden Fragen der modernen Spielanalyse über die rohen technischen und physischen Informationen hinaus. Fußball beruhe auf wiederkehrenden Mustern. Memmert untersucht deshalb mit der Software „Soccer“, welche Formationen sich gegen Aufstellungen des Gegners besonders bewähren.

Laufleistung von vielen Einflussfaktoren abhängig

Weltweit haben Sportwissenschaftler in den vergangenen zehn Jahren versucht, sportlich messbare Leistungen in generelle Aussagen zu fassen. Eine Reihe von Studien setzte die Leistungsfähigkeit mit der Laufleistung gleich und untersuchte, ob Mannschaften, die mehr oder schneller laufen, erfolgreicher sind.

Doch sie kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Die Laufleistung sei von vielen Einflussfaktoren abhängig – von der Stärke des Gegners über den Spielstand bis zur taktischen Ausrichtung, schlussfolgerte ein Team um Trainingswissenschaftler Malte Siegle von der TU München. Zudem lassen sich einzelne Spielphilosophien nur schwer vergleichen. Als Borussia Dortmund 2011 Deutscher Meister wurde, galt die Laufleistung als Schlüssel zum Erfolg. Der FC Bayern München hingegen ist aktuell Tabellenführer und eines der lauffaulsten Teams der Liga. Forscher Memmert geht in Köln der Frage nach, wie dieses „Weniger-ist-Mehr“ mit der Taktik des FC Bayern zusammenhängt. Seiner Ansicht nach ist die „hohe Aufmerksamkeitsbreite der Spieler“ entscheidend.

Also die große Menge an Informationen, die die Spieler zu einem Zeitpunkt wahrnehmen sowie die Elemente, die sie gleichzeitig im Blick behalten. „Alle stehen an der richtigen Position, antizipieren richtig, spielen kluge Pässe und können sich so mehr Torchancen herausarbeiten als andere Mannschaften, die mehr laufen.“

Interpretationen wie diese sollen künftig womöglich Computer übernehmen. Der nächste Schritt der Sportanalyse sei eine Verknüpfung der Informationen herzustellen, um Mannschaftskonzepte und Spielerverhalten zu entschlüsseln. Memmert: „Die Zukunft liegt in kognitiven Faktoren, die sich aus den Daten allein heute noch nicht ablesen lassen: Die Aufmerksamkeit eines Spielers, seine Spielintelligenz.“

American-Football-Team filmt Training mit Drohnen

Ausgerechnet ein altmodischer Zettel war es, der im Sommer 2006 einem Millionenpublikum in Deutschland den Nutzen der modernen Sportanalyse vor Augen geführt hat: „Riquelme links hoch – Crespo langer Anlauf/rechts“ stand zum Beispiel auf dem Spickzettel von Jens Lehmann, den der Nationalkeeper beim WM-Elfmeterkrimi gegen Argentinien studierte und schließlich mit seinen Paraden den Einzug Deutschlands ins Halbfinale sicherte. Videoanalysen hatten die Vorliebe der argentinischen Elfmeterschützen entschlüsselt. Die Nationalmannschaft sei eines der ersten Teams im deutschen Profifußball gewesen, die Spielerleistungen durch technologische Methoden ermittelt hätten, sagt ein DFB-Sprecher.

Heute können Sportanalysten die Fähigkeiten ihrer Spieler akkurat bestimmen. In Deutschland und England tragen Fußballer im Training GPS-Messer, mit denen sich Sprints, Tempowechsel oder Laufstrecke in Echtzeit aufzeichnen lassen. In der finnischen Profi-Eishockey-Liga überwachen Teams sogar den Herzschlag ihrer Spieler. Wenn sich der Pulsschlag der maximalen Herzschlagfrequenz nähert, müssen die Spieler zur Erholung auf die Bank.

Noch einen Schritt weiter geht das American-Football-Team Dallas Cowboys in den USA. Dort werden die Trainingseinheiten mit Drohnen gefilmt und entscheidende Szenen rekapituliert – dreidimensional, mit Virtual-Reality-Brillen.