Berlin. Ausgerechnet ein tieftrauriges Computerspiel steht für einen Trend: immer mehr Videospiele sind mehr als nur Unterhaltung oder Spaß.

Von Fachmedien wird das Spiel „That Dragon, Cancer“ als traurigstes Computerspiel der Welt bezeichnet. Das Spiel erzählt die Geschichte eines unheilbar kranken Jungen und seiner Familie nach. Während die Handlung einzigartig ist, steht das Spiel nach Ansicht von Experten für einen Trend hin zu Spielen, die weit mehr können als das Verlangen nach Unterhaltung zu stillen. Diese Spiele erzählen Biografien wie es Bücher und Filme nicht können, sie vermitteln Nachrichten und lösen reale Probleme spielerisch.

„That Dragon, Cancer“ fällt unter die Kategorie der biografischen Computerspiele. Der Spieler erkundet dabei eine Fantasiewelt, die auf den Erinnerungen an das Leben des verstorbenen Jungen Joel basiert. Schöpfer dieser Welt war Ryan Green, der Vater des an Krebs gestorbenen Kindes. Trotz simpler Grafik und holpriger Steuerung berührt die Geschichte den Spieler. Originaltöne des lachenden Joels, der seufzenden Mutter und des überfordert wirkenden Vaters verleihen dem Spiel eine hohe Authentizität. Während des Spiels gibt es ein Autorennen im Krankenhaus und eine Spielsequenz mit einem Kampf gegen einen Drachen. Vorbilder für die Spielszenen waren wohl „Mario Kart“, „Pitfall!“ oder „Prince of Persia“. Doch im Gegensatz zu den Vorbildern bricht „That Dragon, Cancer“ mit dem zentralen Prinzip der meisten Videospiele: es gibt keinen Gewinner. Der übermächtige Endgegner, der Krebs, gewinnt immer.

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Ganz neu ist die Aufnahme biografischer Elemente und realer Themen in Computerspielen nicht. Vor allem der Spiele-Entwickler Chris Crawford hat in den 1980er Jahren mit alternativen Ansätzen experimentiert und beispielsweise das Spiel „Gossip“ (1983) veröffentlicht. In dem Spiel telefoniert der Spieler mit Computerfiguren und muss ausloten, wie Lästereien das Geschehen beeinflussen. Zwar hat sich das Spiel nicht sehr gut verkauft, die mathematischen Formel hinter den Interaktionen ähneln jedoch stark denen hinter der erfolgreichen Spiele-Serie „The Sims“. Mit dem Spiel „Balance of Power“ (1985) hat Crawford ein kommerziell erfolgreicheres Spiel geschaffen, das wie auch „That Dragon, Cancer“ das Gewinner-Prinzip infrage stellt. „Balance of Power“ simuliert den Kalten Krieg und der Spieler hat die Aufgabe, einen drohenden Atomkrieg zu verhindern. Gelingt einem die Deeskalation nicht, wird die Bombe gezüchtet. Doch statt eines Videos, war nur ein Textfeld zu sehen, auf dem stand: „Nein, es gibt keine Aninmation einer Pilzwolke mit herumfliegenden Körperteilen. Wir belohnen Fehlverhalten nicht.“

Erst durch niedrige Entwicklungskosten werden Spiele wie „That Dragon, Cancer“ möglich.
Erst durch niedrige Entwicklungskosten werden Spiele wie „That Dragon, Cancer“ möglich. © Numinous Games | Ryan Green

Doch die Spiele von Crawford waren eindeutig Einzelerscheinungen. Einen Trend zu solch außergewöhnlichen Spielen sehen Experten erst jetzt. „Die Produktionsbedingungen haben sich einfach geändert. Spiele entstehen nicht mehr nur in einem hochkommerziellen Umfeld“, sagt Dominik Mieth, Professor im Studienfach Gamedesign an der Mediadesign Hochschule in München, unserer Redaktion. „Früher mussten Spielehersteller noch teure Lizenzen von den Konsolenherstellern erwerben und die Kosten dann auch wieder reinholen“, so Mieth. Heute könnten Spiele wesentlich günstiger in Eigenregie auf dem PC entwickelt und über das Internet als Download verbreitet werden.

Spieler wird zum Mediziner im Berliner Krankenhaus

Und so drängen auch ernste Spiele deutscher Hersteller in die Öffentlichkeit. Die Entwickler-Firmen Reality Twist aus München und The Good Evil aus Köln entwickelt sowohl Simulationen wie auch sogenannte News-Games, die sich mit journalistischen Themen auseinandersetzen. Ein Beispiel für einen Simulator ist das „Audi Sales Game“ von Reality Twist, bei dem man in eine Verkaufssituation versetzt wird und als Audi-Mitarbeiter ein Auto an den Mann bringen muss. Ob seit derAbgas-Affäre eine weitere Schwierigkeitsstufe hinzugefügt wurde, ist nicht überliefert. Aus Köln kommt das Spiel „VRΩ“, bei dem man in die Rolle eines Mediziners in einem Berliner Krankenhaus schlüpft. Über Gestensteuerung in einer virtuellen Realität behandelt der Spieler ein Krebsgeschwür. Unter den News-Games findet sich zum Beispiel eine Software, die die Rolle der Frauen in Indien beleuchtet. Das Spiel greift damit auch Nachrichten über Gruppenvergewaltigungen und Misshandlungen von Frauen auf.

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Das Entwickler-Studio Reality Twist hat nach eigenen Angaben Erfahrungen in der Film-Produktion. Dabei haben Computerspiele gegenüber Kino- und Fernsehfilmen deutliche Vorteile, wie der Wissenschaftler Dominik Mieth weiß: „In einem Computerspiel kann ich die Handlung selbst beeinflussen. Bei Filmen wird die Fantasie zwar auch angeregt, aber sie wird duch feststehende Szenen wieder gebremst“. Dass Newsgames oder Spiele wie „That Dragon, Cancer“ die Klassiker FIFA oder Call of Duty vom Markt verdrängen, scheint unwahrscheinlich. Denn auch hier verschwinden die Grenzen von reiner Unterhaltung hin zur Nacherzählung realer Geschehen immer mehr.