Berlin. Dauernder Stress kann der Gesundheit schaden. Doch bisher lässt sich Überlastung nicht biologisch nachweisen. Das soll sich nun ändern.

Es ist ein Zukunftsszenario: Arbeitnehmer beginnen mehrmals im Jahr ihren Dienst mit einer Blut- und Speichelprobe. Die geht zur Analyse ins Labor. Am Ende gibt es eindeutige Hinweise auf die Höhe des Stresslevels – und auf das daraus resultierende Risiko, bald zu erkranken.

So wie Profifußballer bei bestimmten Blutwerten ihr Trainingspensum herunterfahren, könnten Arbeitnehmer ihre Belastung besser steuern, um nicht auszubrennen. Ob es je gelingen wird, einen Biomarker für Stress zu finden, ist ungewiss. „Viele Leute suchen danach. Es wird nicht einfach sein“, sagt Professor Carsten Watzl, Leiter der Abteilung Immunologie beim Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund (IfADo).

Diagnose über Selbstbericht oder Fragebogen

Watzl erklärt die Hoffnung, die sich dahinter verbirgt: „Diagnosen von Belastungserkrankungen wie Burn-out werden bisher ausschließlich mit Selbstberichten oder Fragebögen erstellt.“ Das führe dazu, dass es neben einer gewissen Ungewissheit noch immer ein Stigma gebe: Beim Burn-out gehe es um Gefühligkeit, Betroffene sollten sich nicht so anstellen.

Gäbe es einen Biomarker, wäre beides vorbei, Ungewissheit und Stigma. Gleichzeitig könnte man besser vorbeugen. „Und da wollen wir hin“, sagt Watzl.

Unter Watzls Leitung sind Immunologen und Psychologen des IfADo bei ihrer Suche jetzt einen kleinen Schritt vorangekommen. Sie haben in einer Studie analysiert, wie sich Prüfungsstress auf das menschliche Abwehrsystem auswirkt.

Satz „Stress macht krank“ wissenschaftlich belegen

Die Ergebnisse der Studie sind im internationalen Fachjournal „Plos One“ veröffentlicht. „Wir wollten dazu beitragen, die platte Aussage ,Stress macht krank‘ auf wissenschaftliche Beine zu stellen“, sagt Watzl.

Bei Prüfungsstress verändert sich das Immunsystem.
Bei Prüfungsstress verändert sich das Immunsystem. © Getty Images/Vetta | skynesher

Die Fragestellung lautete deshalb, ob eine Mischung von chronischen und akuten Stresselementen vor und während einer Klausurphase an immunologischen Parametern in Blut und Speichel feststellbar ist.

20 Studierende der Psychologie gaben in einem Zeitraum von acht Wochen dazu Proben ab. Die erste Untersuchung fand vor dem Lernstart statt, die zweite in der heißen Phase anderthalb Wochen vor dem Klausurtermin, die dritte und vierte unmittelbar vor und nach der Prüfung. Sieben Tage nach den Klausuren wurden die Studierenden letztmalig untersucht.

Hat die Persönlichkeit Einfluss auf Wirkung von Stress?

Die Wissenschaftler analysierten die Proben auf das Stresshormon Cortisol sowie 45 immunologische Parameter und deren Veränderung, etwa auf Untergruppen von natürlichen Killerzellen, Monocyten oder T-Zellen.

Um Rückschlüsse zu ziehen, ob auch Persönlichkeitseigenschaften einen Einfluss auf mögliche Folgen von Prüfungsstress haben, mussten die Probanden zudem eine Reihe standardisierter Fragebögen ausfüllen. Dabei ging es um Themen wie Burn-out, Depression, die Fähigkeit zur Selbstkontrolle oder Anforderungen im Privatleben.

Die Ergebnisse zeigten mehrerlei: Die Cortisol-Konzentration im Speichel stieg im Verlauf des Prüfungszeitraums an, die Anzahl der Immunzellen im Blut sank. „Das betraf vor allem Zellen des angeborenen Immunsystems, die für frühe Immunantworten auf Infektionen besonders wichtig sind“, sagt Watzl.

Körper schaltet während Prüfungsphase in Kampfmodus

Aber nicht nur die Anzahl der Zellen war vermindert, einige waren auch aktiver. Auffällig sei zudem eine Verschiebung des Verhältnisses von reifen und unreifen Subpopulationen von Killer- und T-Zellen gewesen. Watzl: „Bis kurz vor Klausurstart stiegen die prozentualen Anteile der unreifen Zellen im Blut an, während die der reifen sanken.“

Den Forschern zufolge legen die Ergebnisse die Interpretation nahe, dass der Körper während der Prüfungsphase in eine Art Kampf- oder Fluchtmodus schalte, sich also auf Abwehrarbeit und eine hohe Leistungsbereitschaft einstelle. „Es ist klar geworden, dass das Immunsystem auf kurzfristigen Stress reagiert“, sagt Watzl.

„Stress ist medizinisch und psychologisch gesehen zunächst einmal nichts Negatives“, sagt Stressforscher und Psychiater Mazda Adli, Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin.

Der Mensch passte sich durch Stress seiner Umwelt an

Stress gehöre zum gesunden Leben dazu und habe im Laufe der Evolution dafür gesorgt, dass der Mensch sich immer besser an seine Umwelt anpassen konnte. „Wir konnten uns Gefahren gegenüber adäquat verhalten, uns etwa in Sicherheit bringen oder wehren, wenn es notwendig ist“, so Adli.

Möglich mache dies „eine Kaskade von Reaktionen auf Stress in unserem Organismus“. Stresshormon-Achsen würden aktiv und bereiteten den Körper auf Belastung vor.

„Stress, der krank macht, ist chronisch oder unvorhersehbar, eine Dauerbelastung ohne rechtzeitige Entlastung“, sagt Adli. Dies führe zu veränderten Stoffwechselprozessen. Das Stresshormon Cortisol im Übermaß sei zum Beispiel neurotoxisch und schlecht für bestimmte Hirnareale, die für die Verarbeitung von Emotionen und das Gedächtnis wichtig seien.

Fünf Blut- und Speichelproben innerhalb von acht Wochen

Darüber hinaus komme es mit der Zeit zu Stimmungsveränderungen, die in eine Depression führen könnten. Adli: „Stresshormone bewirken aber noch eine ganze Reihe anderer körperlicher Folgen, zum Beispiel eine diabetische Stoffwechsellage oder Bluthochdruck.“

Dauerstress als Gesundheitsgefahr – genau dafür liefert auch die Studie aus Dortmund neue Anhaltspunkte. Denn das Immunsystem von Probanden, die schon vor der Prüfungsphase aufgrund individueller Gründe psychisch belastet waren, reagierte kaum noch auf den akuten Klausurstress.

Ihr Blut wies generell weniger Immunzellen auf. „Frühere Belastungen könnten das Immunsystem so weit geschwächt haben, dass es nicht mehr adäquat auf vorübergehende Stressbelastungen reagiert“, schreiben die Studienautoren. „Der Boost, den das Immunsystem normalerweise bei Stress gibt, ist bei einigen ausgeblieben“, sagt Watzl.

Die Kombination verschiedener Paramter

Um die Effekte von Stress in Kombination mit Persönlichkeitseigenschaften auf das Immunsystem noch besser verstehen zu können, sind dem IfADo zufolge weitere Studien mit einer größeren Zahl von Probanden und einheitlichen Designs nötig.

Carsten Watzl hält es für möglich, dass die Wissenschaft bei der Entwicklung eines zuverlässigen Biomarkers für Überlastung gar nicht nur nach einem immunologischen Wert suchen müsse. „Vielleicht ist es die Kombination verschiedener Parameter, die irgendwann die Lösung bringt.“