Münster. Im Humanprobenarchiv lagern Blut, Urin und Speichel der Deutschen. Analysen zeigen, welchen Schadstoffen die Bürger ausgesetzt sind.

Das deutsche Schadstoffgedächtnis ruht in einer umgebauten ehemaligen Bunkeranlage in Münster. In unterirdischen Räumen lagern derzeit etwa 350.000 Proben von Blut, Urin, Haar und Speichel in Metalltanks über flüssigem Stickstoff. Das Archiv der Humanprobenbank des Bundes reicht zurück bis ins Jahr 1982.

Jedes Jahr werden neue Proben an vier verschiedenen Orten gesammelt: Münster, Ulm, Greifswald und Halle, stellvertretend für West-, Süd-, Nord- und Ostdeutschland. Sie sind von unschätzbarem Wert, denn ihre Analyse gibt Aufschluss darüber, welchen Schadstoffen die Deutschen ausgesetzt sind.

Umstrittene Chemikalien wie Glyphosat im Fokus

„Wir können jederzeit schauen, wie sich die Belastung mit der Zeit entwickelt hat“, sagt Marike Kolossa-Gehring vom Umweltbundesamt (UBA), die das Projekt leitet. Das UBA wertet die Analysen aus und ist zuständig für die Beratung der Bundesregierung. Wie wichtig die Humanproben sind, zeigen die immer neu aufflammenden Diskussionen um bestimmte Chemikalien.

Da ist der allgegenwärtige Plastikgrundstoff Bisphenol A, das Herbizid Glyphosat oder das jüngst in Eiern nachgewiesene Biozid Fibronil. Insgesamt, so schätzt Kolossa, seien derzeit etwa 140.000 verschiedene Chemikalien auf dem Markt.

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    Viele Belastungen deutlich zurückgegangen

    Viele davon landen im Organismus. „Im Körper kann man locker 300 Stoffe nachweisen.“ Für manche Einzelstoffe zeigen Langzeitreihen durchaus erfreuliche Trends: „Wir haben viele Probleme gelöst“, sagt Andreas Gies, Leiter der UBA-Abteilung Umwelthygiene. „Wir beobachten über den Zeitverlauf, dass viele Belastungen deutlich zurückgegangen sind, teilweise bis zu 90 Prozent.“

    So sank etwa die Konzentration von Blei im Blut untersuchter Münsteraner von 1981 – damals war Benzin noch verbleit – bis 2016 von mehr als 70 auf 9 Mikrogramm pro Liter. Tendenz: weiterhin abnehmend. Erledigt ist das Problem damit allerdings nicht. Da Bleiverbindungen krebserregend seien und das Gehirn schädigten, gebe es keine untere Grenze, so Gies. „Viele Stoffe sind problematischer, als wir früher gedacht haben.“

    Wie schädlich ist Glyphosat wirklich?

    Hohe Wellen schlägt momentan der Streit um Glyphosat. Dass das Herbizid die Artenvielfalt mindert, gilt als sicher. Die Debatte dreht sich aber zurzeit vor allem darum, ob es die menschliche Gesundheit schädigt. Die Internationale Krebsforschungsagentur (IARC) hatte die Substanz vor zwei Jahren als „wahrscheinlich krebserregend“ eingestuft.

    Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), das Glyphosat im Auftrag der EU bewertete, vertritt eine andere Einschätzung. Bei sachgerechter Anwendung seien beim Menschen keine Risiken zu erwarten, heißt es in einer Stellungnahme. Die IARC prüfe lediglich die Eigenschaft eines Wirkstoffes, Krebs zu erzeugen – nicht aber, ob das bei der zu erwartenden Aufnahmemenge tatsächlich passiert.

    Nur Pflichtstudien der Industrie einbezogen

    Experten sehen einen anderen Grund für die widersprüchlichen Ergebnisse. Die beiden Stellen zogen unterschiedliche Studien heran und bewerteten diese auch jeweils anders. Das BfR bezog fast ausschließlich Studien ein, die von der Industrie selbst durchgeführt wurden. Pflichtstudien, die jeder Hersteller vorweisen muss, um etwa eine Krebsgefahr auszuschließen.

    „Seit 2011 sind Hersteller aber verpflichtet, auch unabhängige Studien für eine Zulassung einzureichen. Im Zulassungsantrag hat der Glyphosat-Hersteller Monsanto allerdings etwa 90 Prozent dieser unabhängigen Studien aus unterschiedlichen Gründen als nicht geeignet disqualifiziert. Das BfR hat sich dieser Bewertung angeschlossen“, sagt der Toxikologe Peter Clausing vom Pestizid-Aktions-Netzwerk PAN Germany.

    Die IARC bezog sie hingegen ein. Aber auch bei der Beurteilung der gleichen Studien gab es Unterschiede. So ließ sich sogar bei „vier von zwölf Hersteller-Studien eine Gefahr für Nierenkrebs und Lymphdrüsenkrebs ablesen“, sagt Clausing. So sah es die IARC. Das BfR wertete die Ergebnisse anders, der Zusammenhang sei nicht aussagekräftig.

    Glyphosat in 40 Prozent der Urinproben

    Weitere Forschung wird künftig Klarheit bringen müssen, denn schon heute belegen Analysen der Humanprobenbank von 2001 bis 2015, dass viele Bundesbürger den Stoff im Körper tragen. In Urinproben aus Greifswald wiesen die Forscher 2001 bei rund 10 Prozent der Menschen Glyphosatwerte über dem Wert von 0,1 Mikrogramm pro Liter nach. Bis zum Jahr 2012 waren es 58 Prozent, bis 2015 sank der Anteil auf 40 Prozent.

    Glyphosat ist dabei mitnichten der einzige Stoff, dessen Bewertung noch unklar ist. Beispiel Phthalate: Die Plastik-Weichmacher werden vor allem zur Herstellung von PVC-Kunststoffen genutzt. Doch ein Teil der Stoffe entweicht. Dass Phthalate die Fruchtbarkeit schädigen können, gilt als wahrscheinlich. Die Stoffe unterliegen laut Kolossa-Gehring seit Anfang des Jahres 2015 einer Zulassungspflicht, was de facto einem Verbot gleichkomme.

    „In nahezu sämtlichen Urinproben wurden die Metabolite der meisten Phthalate nachgewiesen“, heißt es von Seiten der Umweltprobenbank. Das weise auf eine allgegenwärtige Belastung der deutschen Bevölkerung hin. Zwar sank die Belastung der Bundesbürger seit Mitte der 1990er-Jahre, aber dafür steigen nun die Konzentrationen der sieben bis acht Ersatzstoffe wie etwa Hexamoll Dinch. „Ich glaube nicht, dass wir die Wirkungen dieser Stoffe ausreichend bewerten können“, sagt Kolossa-Gehring.

    Chemikalien-Cocktail lässt sich nur schwer bewerten

    Ist es mitunter schwierig, das Risiko einzelner Substanzen zu bewerten, so ist das bei Chemikalien-Cocktails fast ausgeschlossen. Experten gehen davon aus, dass sich Effekte mancher Stoffe im Körper summieren können.

    „Es gibt gute Belege, die zeigen, dass gemeinsame Effekte auftreten, selbst wenn jeder Bestandteil einer Kombination unterhalb von Konzentrationen vorliegt, bei denen beobachtbare Effekte auftreten“, schrieb etwa Andreas Kortenkamp von der Brunel University London 2007 im Journal „Environmental Health Perspectives“.

    Auch UBA-Expertin Kolossa-Gehring hält das für denkbar. „Die Bewertung von Einzelstoffen verharmlost etliche Risiken“, glaubt sie, weiß aber auch, „die Untersuchung möglicher Kombinationen ist eine unendliche Aufgabe.“ Um sich zu schützen, bliebe Verbrauchern bislang nur, sinnvolle Kaufentscheidungen zu treffen und etwa Bio-Produkte zu konsumieren.