Berlin. Seit Jahren warnt die WHO vor zunehmenden Resistenzen bei Antibiotika. Doch in der Pharmaforschung gab es lange andere Prioritäten.

Nie in seinem Leben habe er so viel über Antibiotika gesprochen wie in den vergangenen zwei Jahren, sagt Siegfried Throm am Ende des Gesprächs. Der Pharmazeut leitet den Bereich Forschung und Entwicklung bei Deutschlands größtem Pharmaverband VFA. Vor ihm auf dem Tisch liegt eine Zeichnung: Rote Kreise machen sich an einer Bakterienzelle zu schaffen – und scheitern. Weil es kein Durchkommen ins Innere der Zelle gibt oder weil die Zelle die roten Kreise einfach wieder herauspumpt. Die Kreise symbolisieren Antibiotika, die ganze Zeichnung die immense medizinische Herausforderung, vor der die Weltgemeinschaft steht: Die steigende Zahl an Bakterien, die gegen alle gängigen Antibiotika resistent sind.

Ein Bericht im Auftrag der britischen Regierung aus dem letzten Jahr nennt die gigantische Zahl von künftig jährlich zehn Millionen Toten durch resistente Keime – vorausgesetzt, es werden keine neuen Antibiotika entwickelt. Throm hält nicht viel von der Rechnung des Ökonomen Jim O’Neill, „aber es war ein Weckruf an die Politik, um mal zu zeigen, was im schlimmsten Fall passieren könnte“.

Jedes Jahr sind 25 Todesfälle darauf zurückzuführen

Geht es nach Gesundheitsexperten sowie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) braucht es diese Art Weckrufe dringend. Denn bereits jetzt sind jedes Jahr bis zu 25.000 Todesfälle in Europa auf Resistenzen zurückzuführen, gegen die kein handelsübliches Antibiotikum gewirkt hat. „Die Zahl ist im Vergleich zu anderen Todesursachen noch gering“, sagt Throm, „aber sie könnte innerhalb kürzester Zeit sehr stark ansteigen. Das ist das Bedrohliche.“

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Zuletzt warnte die WHO im September vor einem Mangel an wirksamen Antibiotika. Es müsse in die Forschung investiert werden, sonst „kommen wir wieder in eine Zeit, in der Menschen gewöhnliche Infektionen und kleine operative Eingriffe fürchten“, wurde WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus zitiert. Einige Monate zuvor hatte die Organisation eine Liste mit zwölf Bakterienarten veröffentlicht, die „die größte Bedrohung der menschlichen Gesundheit darstellten“, weil sie Resistenzen gegen Antibiotika entwickelt hatten.

Entstehung von Resistenzen ist etwas ganz Natürliches

Die Entstehung von Bakterienresistenzen ist zunächst etwas Natürliches. Sie folgt der Darwin’schen Evolutionstheorie „Survival of the Fittest“: Die am besten angepassten Individuen überleben. Setzt man Bakterien also einer Bedrohung aus, etwa einem Antibiotikum, wird ein Teil der Erreger über kurz oder lang Abwehrmechanismen entwickeln. „Dem muss man aber kontinuierlich mit immer neuen Wirkstoffen etwas entgegensetzen“, sagt Throm. Das jedoch ist bei einigen wichtigen Erregerfamilien lange Zeit nicht geschehen. Eine der bedeutendsten Entwicklungen der Medizingeschichte steht auf dem Spiel, weil die Natur sie einholen könnte.

Seit Entdeckung des Penicillins in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts durch den schottischen Mediziner Alexander Fleming ist die Zahl neuer Antibiotika seit 1950 zunächst kontinuierlich gestiegen, bis sie in den 80er- und 90er-Jahren mit mehr als 40 Neueinführungen ihren Höhepunkt erreicht hat. „Zu dieser Zeit sind Experten dann herumgelaufen und haben gesagt: ‚Es wird wahrscheinlich nicht mehr nötig sein, etwas Neues zu entwickeln‘“, sagt Marc Stadler. Er forscht am Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung (HZI) an neuen Antibiotika. „Der Kampf gegen die Mikroben schien gewonnen“, sagt Stadler, der zuvor lange bei Bayer in der Pharmaforschung gearbeitet hat. Ein fataler Irrtum, wie man inzwischen weiß.

Bei der Antibiotika-Entwicklung fehlt es an Know-How

Doch die Industrie reagierte damals, reduzierte ihre Forschung wesentlich und konzentrierte sich stattdessen auf Krebsmedikamente oder Herz-Kreislauf-Mittel. Damit ging auch ein dramatischer Verlust an Expertise einher. „Wir haben heute weltweit etwa 500 Menschen, die sich mit Antibiotika-Entwicklung auskennen. Das ist ziemlich wenig“, sagt Siegfried Throm, „selbst wenn große Firmen wieder einsteigen wollen – es fehlt ihnen das Know-how.“ In den nächsten Jahren müsse die Zahl der Experten um mindestens 50 Prozent erhöht werden, glaubt der Pharmakologe.

Wenn also heute Antibiotika nicht mehr wirken, werden sie nicht morgen durch neue ersetzt werden können. Zehn Jahre dauert es im Schnitt von der Grundlagenforschung bis zu einer Markteinführung. Wenn es überhaupt dazu kommt. Viele Versuche scheitern bereits im präklinischen Stadium, also noch bevor ein neuer Stoff mit Menschen getestet werden kann.

Antibiotika kommen ursprünglich aus der Natur

Für den Biologen Marc Stadler ist das Scheitern Teil seiner Arbeit. „Man muss immer damit rechnen, dass man erst einmal 100 Substanzen isolieren muss, bis man eine findet, an der was Neues dran sein könnte.“ Stadler sucht nach neuen Antibiotika dort, wo sie ohnehin ursprünglich herkommen: In der Natur. Denn Antibiotika werden von Pilzen oder Bakterien gebildet, um andere Mikroorganismen am Wachstum zu hindern. Auch das Penicillin ist eigentlich ein natürlich vorkommender antimikrobieller Stoff, der von Schimmelpilzen gebildet wird.

So streift etwa eine Doktorandin des Helmholtz Zentrums mit einer Lupe durch den Dschungel und sucht nach einer bestimmten Spinnenart, die mit Pilzen zusammenlebt. Auf diese Weise findet sie immer neue Pilzarten, die entsprechend auch neue Wirkstoffe produzieren. „Wir untersuchen also seltene oder sogar bislang unbekannte Mikroorganismen wie Myxobakterien oder Pilze auf die Bildung antibiotischer Stoffe“, sagt Stadler. Die Organismen finden die Forscher in Deutschland, in Europa aber auch Thailand oder China. „In Ländern, in denen die Biodiversität noch nicht so weit erschlossen ist, hat man bessere Chancen, neue Mikroorganismen zu finden“, sagt der Biologe.

Cystobactamide sind aussichtsreiche Kandidaten

Die Organismen in der Natur zu finden ist die eine Sache, sie im Labor zu züchten eine andere. Manche vertragen das Licht nicht, andere nicht den Sauerstoff. „Man muss sehr viel Arbeit reinstecken“, sagt Stadler. Einen sehr aussichtsreichen Kandidaten haben die HZI-Forscher in Bodenproben entdeckt: Cystobactamide.

Dabei handelt es sich um sogenannte Myxobakterien, die in ihrer natürlichen Umgebung andere Bakterien fressen. Sie bringen eine bedeutende Eigenschaft mit sich: Sie wirken sehr gut gegen sogenannte gramnegative Keime, die durch eine doppelte Zellwand geschützt sind. Sie sind seit jeher das Problemkind in der Antibiotikaforschung, nur wenige Substanzen können gegen sie etwas ausrichten. „Seit 30 Jahren hat es in diesem Bereich keinen neuen Ansatzpunkt mehr gegeben. Alle Anstrengungen der Industrie sind hier gescheitert“, sagt Siegfried Throm, „hier ein Antibiotikum mit einem neuen Wirkmechanismus zu finden – das wäre der heilige Gral.“

Forscher hoffen auf mehr Zusammenarbeit mit Industrie

Doch eine vielversprechende Substanz alleine reicht nicht. „Bei Antibiotika stehen wir vor der Herausforderung, dass sich das Arzneimittel gegen einen Fremdbestandteil, einen Mikroorganismus, richten muss – dieser Angriff aber im menschlichen Körper stattfindet“, erklärt Throm. Das Antibiotikum muss also zwei Ziele erfüllen: Den Fremdorganismus unschädlich machen, ohne die Körperzellen zu schädigen.

Stadler ist optimistisch, dass es zumindest in zwei von einem halben Dutzend präklinischen Projekten am HZI zu einer engen Zusammenarbeit mit der Industrie kommen könnte. Siegfried Throm hofft, dass die wieder verstärkte Forschung der Industrie in Kooperation mit Forschungsinstituten Früchte trägt und die Medizin wieder die Vorhand gewinnt. „Ich bin optimistisch“, sagt Throm. „Ich hoffe, es ist nicht zu viel Zweckoptimismus dabei.“