Berlin. Nach dem Abheben folgen Gefühle: Flugreisende verhalten sich in der Luft emotionaler, glauben Forscher. Studien erkunden das Phänomen.

Das Flugzeug hat gerade abgehoben. Der Kapitän sagt die Flugzeit durch, Stewardessen laufen durch die Reihen. Da stellt ein Mann seine Rücklehne nach hinten. Die Frau in der Sitzreihe hinter ihm beschwert sich, auch ihre Mutter im Nebensitz wird laut, der Mann wird handgreiflich – die Situation eskaliert. In 10.000 Metern Höhe reagieren viele Menschen deutlich emotionaler als am Boden.

Zwar läuft die Situation nicht immer derart aus dem Ruder, wie in diesem realen Fall, der im September vor dem Amtsgericht Düsseldorf mit einer vierstelligen Strafzahlung für den Mann endete. Dennoch scheinen Wut, Angst, Trauer und Freude über den Wolken stärker zu sein. Was hat es damit auf sich?

Das Immunsystem ist anfälliger

Die Wissenschaft ist gerade erst dabei, herauszufinden, was das spezielle Klima und die veränderten Umgebungsbedingungen in einem Flugzeug mit uns machen: Müdigkeit, Konzentration, Sehkraft, Erinnerung – vieles verändert sich, wenn der Mensch sich in das künstliche Klima einer großen, voll besetzten Passagiermaschine begibt.

„Die Luftfahrt ist in einem kontinuierlichen Wandel“, sagt Jochen Hinkelbein, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrtmedizin und geschäftsführender Oberarzt an der Uniklinik in Köln. Er ist einer der Professoren, die sich mit der Wirkung des Fliegens auf Körper und Wahrnehmungen des Menschen beschäftigen. „Durch die Zunahme der Zahl der Passagiere gewinnen Studien auch zu Themen wie ‚Emotionen beim Fliegen‘ an Relevanz.“ Erste Ergebnisse hat er mit Kollegen schon kürzlich vorstellen können.

Sauerstoffmangel löst Emotionen aus

Demnach könne „bereits leichter Sauerstoffmangel in der Kabine mit dem Immunsystem im Zusammenhang“ stehen. Der Luftdruck und der Sauerstoffgehalt im Flugzeug entsprechen ungefähr dem auf der Zugspitze, also den Bedingungen bei einer Höhe von 2500 Metern über der Meeresoberfläche. Diese Veränderung führt zu einem verringerten Sauerstofftransport der roten Blutkörperchen. Kombiniert mit dem sich während Start, Flug und Landung verändernden Druck in der Flugkabine, kann das dafür sorgen, dass das Immunsystem anfälliger für Bakterien und Viren ist. Die Erkältung in der Karibik kann also auch mit der An- und Abreise zu tun haben. „Nachgewiesen sind bisher außerdem eine leichte Sehschwäche sowie eine schlechtere Konzentration“, sagt der Luftfahrtmediziner.

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    Was die emotionalen Veränderungen angeht, sind die Wissenschaftler allerdings noch am Anfang. „Wir können uns auf einige Forschungsergebnisse stützen, die belegen, dass starker Sauerstoffmangel eine Euphorie auslöst“, sagt Hinkelbein. Das sei schon bei Kampfpiloten in den Weltkriegen des letzten Jahrhunderts nachgewiesen worden. In der modernen Flugzeugkabine mit Druckausgleich sei der Effekt aber sehr viel geringer.

    Warnung vor emotionalen Filmen

    Laut einer Studie des Kings College in London begünstigen sowohl die Enge als auch die geringe Luftfeuchtigkeit die Wahrscheinlichkeit einer Panikattacke. Bei einigen Passagieren können diese Faktoren auch zu einer depressiven Stimmung führen. Der Wissenschaftler Stephen Legg von der Massey University in Neuseeland spricht von „Flug-Müdigkeit“ und meint damit die generelle Missstimmung, die bei Fliegenden einsetzen kann.

    Bei der US-Airline Virgin wird bereits versucht, sich auf mögliche Stimmungsschwankungen der Passagiere einzustellen – auch ohne wissenschaftliche Belege für die Ursachen. So spielt die Fluggesellschaft vor dem Videoprogramm einen Trailer ab, der vor emotionalen Folgen trauriger und sentimentaler Filme warnt. In einer eigenen Umfrage auf Sozialen Netzwerken hatte das Unternehmen zuvor herausgefunden, dass 55 Prozent der Passagiere sich während eines Fluges „emotional aufgewühlter“ fühlen.

    Entertainment soll Passagiere beruhigen

    Doch selbst die Filme, die im Flugzeug gezeigt werden, sind bereits stark vorgefiltert: Da die meisten Airlines in fast alle Regionen der Erde fliegen, versuchen sie, keine Kulturkonflikte auszulösen. So dürfen in fast keinem Flugzeug-Film religiöse Konflikte vorkommen. Genauso zensiert werden häufig homosexuelle Inhalte, politisch-kritische oder Gewaltszenen sowie Schimpfwörter. Der Hollywood-Film „Wolf of Wallstreet“ wurde im Airline-TV um 45 Minuten gekürzt und einige Fluggäste beschwerten sich danach, dass sie den Inhalt nicht mehr verstanden. Das sorgte dann also ganz unbeabsichtigt wieder für Ärger an Bord.

    Dabei wurde das Entertainment-Programm, für das manche Airline bis zu 17 Millionen Euro pro Jahr ausgibt, aus nur einem Grund erfunden: Es soll die Gäste beschäftigen und beruhigen. So zumindest sieht das Reiner Kemmler. Der heute selbstständige Luftfahrtpsychologe arbeitete lange als Referent für Luftfahrtpsychologie bei der Deutschen Lufthansa. „Gerade weil Fliegen für den Körper und den Geist anstrengend ist“, so der Experte, „tun Unternehmen alles, um sämtliche primären Bedürfnisse zu stillen und eine Atmosphäre zu schaffen, die Passagiere beruhigt.“ Dazu gehörten neben kostenlosem Essen, Getränken und Wärme auch gut gelauntes Personal und ein buntes Entertainment-Programm. Doch bei vielen dieser Punkte machen Fluggesellschaften mittlerweile Abstriche – und erhöhen so die Wahrscheinlichkeit von Stresssituationen.

    Hilfreich ist Platz in Höhe der Tragflächen

    Doch noch ein weiterer Aspekt hat wohl großen Einfluss auf den emotionalen Zustand der Fluggäste: das Ziel der Reise. „Fliege ich nach Hause“, sagt Kemmler, „freue ich mich vielleicht gerade auf jemanden oder bin traurig über das Ende des Urlaubs.“ Auf dem Hinflug in eine fremde Gegend wiederum kann die Trennung von daheim und der aufregende neue Ort für labile Personen ebenfalls zu einem emotionalen Problem werden – zusätzlich zur Enge des Flugzeugs.

    Um zumindest den körperlichen Stress für empfindliche Passagiere zu mindern, hat der Luftfahrtpsychologe einen Rat: „Im vorderen und hinteren Teil seien die Ausschläge der Höhen- und Seitenruder deutlicher zu spüren. Wer sich einen Platz in der Höhe der Tragflächen sichert, merkt von Turbulenzen deutlich weniger.“ Gegen renitente Sitznachbarn hilft das allerdings auch nicht.