Hamburg. Der idiopathische Gesichtsschmerz ist eine wenig erforschte und schwer therapierbare Krankheit. Er stellt Mediziner vor große Rätsel.

Voller Vorfreude auf den Sommerurlaub stieg der Elfjährige ins Auto – dann begann eine Odyssee. Kaum im Auto, traten aus dem Nichts stechende Schmerzen im rechten Oberkiefer auf. Zunächst vereinzelt, dann sechs- bis siebenmal am Tag. Etwa 20 Minuten dauerte jeder Anfall. Der Zahnarzt zog erst einen Zahn und schickte das Kind zum Mund-Kiefer- und Gesichtschirurgen. Dann ging es zurück zum Zahnarzt . . .

Ein Jahr dauerte es, bis ein Mediziner das Kind in die Gesichtsschmerzsprechstunde des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) überwies. Sie ist die einzige in Deutschland, die von einem Schmerztherapeuten betreut wird. „Der Junge hatte Glück, dass der Zahnarzt ihn zu uns schickte, bevor er anfing, weitere Zähne zu ziehen. Mit einer Schmerztherapie konnten wir ihm helfen“, sagt Professor Arne May. Seit gut sechs Jahren beschäftigt sich der Neurologe mit Gesichtsschmerzen, die ohne erkennbaren Grund auftreten.

Patientin wurden neun Zähne gezogen

Sie werden idiopathischer Gesichtsschmerz genannt. Jährlich behandelt May etwa 100 bis 150 Patienten aus ganz Deutschland. „Die meisten Patienten, die sich bei mir melden, haben eine jahrelange Krankheitsgeschichte hinter sich. Ihnen werden Zähne gezogen, sie erhalten Antibiotika, bekommen Beißschienen. Am Ende können sie die vielen Wartezimmer, in denen sie auf Hilfe hofften, gar nicht mehr zählen. Gucken Sie sich diese Mail einer Patientin an, sie ist typisch für meine Patienten“, sagt der Schmerztherapeut.

Die Mail liest sich wie ein Albtraum. Vor fast vier Jahren begann die Leidensgeschichte. Plötzlich traten bei der Frau Schmerzen im Gesicht auf. Sie ging zum Zahnarzt – wiederholt. Insgesamt neun Zähne wurden ihr gezogen, die Schmerzen blieben, wenn auch schwächer. Nachdem sie vor einem Jahr Implantate bekam, kehrten die Gesichtsschmerzen mit voller Wucht zurück. Selbst stärkste Medikamente hindern den Schmerz nicht daran, sich im rechten Ober- und Unterkiefer auszutoben. „Mein Neurologe hat aufgegeben, er könnte mir nicht mehr helfen und hat mich zwei Wochen krankgeschrieben. Ich will mich aber nicht aufgeben.“ Schreiben wie diese erhält Arne May mehrmals im Monat. Sie alle zeigen: Diese Krankheit ist zu unbekannt.

90 Prozent der Betroffenen sind Frauen

Während einer Trigeminusneuralgie kommt der Schmerz blitzartig, wie ein Stromschlag. Gereizt wird dabei der Trigeminusnerv, einer von zwölf Hirnnerven. Der chronische idiopathische Gesichtsschmerz hingegen wird meist als dumpfer Schmerz in der Tiefe der Gesichtsmuskulatur oder der Zähne wahrgenommen, der einfach nicht enden will. Dieser Schmerz, der früher als „atypischer“ Gesichtsschmerz bezeichnet wurde, tritt laut einer niederländischen Studie bei elf Prozent aller Menschen auf, die an Gesichtsschmerzen leiden. 90 Prozent der Betroffenen sind Frauen. Das ist genauso rätselhaft wie die Ursachen, die diese Schmerzen entstehen lassen.

Wahrscheinlich verbergen sich hinter diesem Schmerz unterschiedliche Krankheiten mit unterschiedlichen Ursachen, vermutet May. „Manche nehmen psychische Ursachen an, andere neurologische und wieder andere halten es für die Folge einer Verletzung oder Operation im Hals-Nasen-Ohren oder Zahn-, Mund-Kieferbereich. Wir wissen es nicht, zurzeit ist alles Spekulation. An die psychische Ursache glaube ich nicht. Was wir brauchen, ist vernünftige Forschung zu dem Thema“, sagt Arne May. Doch dafür gebe es kein Geld.

Krankhafte Veränderungen des Kiefergelenks

Zugleich ist die Diagnose dieser Krankheit eine Herausforderung. Um den chronischen idiopathischen Gesichtsschmerz sicher zu diagnostizieren, müssen alle anderen möglichen Ursachen für Schmerzen im Gesicht ausgeschlossen werden. Zu den häufigsten Gründen zählen Erkrankungen der Zähne und Ohren, entzündete Nasennebenhöhlen, krankhafte Veränderungen des Kiefergelenks oder Verletzungen der Gesichts- und Mundnerven. Insgesamt listet die Deutsche Gesellschaft für Neurologie mehr als 25 Ursachen auf, unter ihnen Herpes, Migräne und Augenkrankheiten.

„Noch viel zu oft wird nicht ausreichend diagnostiziert. Dabei stehen mit dem Röntgen, der Kernspintomografie, neurologischen Untersuchungen und den Blutanalysen Diagnosetechniken zur Verfügung, mit denen man viele Ursachen sicher ausschließen kann, bevor man handelt“, sagt May. „Dort, wo eine gute Zusammenarbeit mit Zahnärzten besteht, geschieht das auch.“ Denn es gelte, chirurgische Eingriffe zu vermeiden, um die Krankheit nicht zu verschlimmern. Nicht selten führen die Leidenswege der Patienten in Verzweiflung, Depressionen oder Arbeitslosigkeit.

Patienten können Schmerzattacken beeinflussen

Die eine Therapie, die sicher wirkt, gibt es nicht. „Wir können unseren Patienten meist nur das Leben erleichtern. Selten gelingt es uns mit einer Kombination aus Antidepressiva und Methoden zur Stressbewältigung, die Schmerzen gänzlich zu vertreiben“, sagt May. Gleichwohl helfen verhaltenstherapeutische Maßnahmen, die Ängste vor dem Schmerz abzubauen. Das erleichtert die Schmerzbewältigung. Auch Biofeedback, das in fünf Sitzungen erlernt werden kann, stärkt die Patienten, weil sie selber ihr Wohlbefinden und damit die Schmerzattacken beeinflussen können. Und selbst Hypnose kann, wie eine Studie zeigt, nach vier Wochen zu einer Schmerzlinderung führen.

Da die Zahn- und HNO-Ärzte die meisten dieser Schmerzpatienten als Erstes sehen, ist wichtig, seine Kollegen besser zu informieren: „Nur eine frühe Zusammenarbeit von Zahnärzten, HNO-Ärzten, Kieferorthopäden und Kieferchirurgen mit Schmerztherapeuten erhöht die Chance, dass diesen Patienten unnötige chirurgische Eingriffe erspart werden.“

Mail-Kontakt: gesichtsschmerz@uke.de