Berlin. Influenzaviren sind ein evolutionäres Erfolgsmodell. Wie sie sich immer neu erfinden und warum der Mensch bisher machtlos dagegen ist.

Über eine Million Tote haben Grippeviren allein 2017 in Deutschland auf dem Gewissen – im Wesentlichen Hühner, Puten und Wildvögel. Einige Mitglieder der umtriebigen Virenfamilie werden auch Menschen und anderen Säugetieren gefährlich. Bislang können sie meist nur jeweils einer Art effektiv schaden. Doch allein der Zufall bestimmt darüber, ob aus ihrem Kreis irgendwann ein Super-Keim hervorgeht, der Mensch, Vogel und Vierbeiner quasi grenzüberschreitend krank machen und sich unkontrolliert verbreiten kann.

Influenzaviren haben ein evolutionäres Erfolgskonzept entwickelt, das seinesgleichen sucht. Ständig verändern sie sich, tauchen in immer neuen Varianten auf, weltweit. Impfungen müssen deshalb jährlich neu zusammengesetzt werden – anhand von Vorhersagen, die in der Vergangenheit auch schon daneben lagen. Wissenschaftler vom Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig haben eine Lösung für dieses Problem entwickelt.

Flexibles Erbgut als Allzweckwaffe

„Influenzaviren haben die unangenehme Eigenschaft, dass ihr Erbgut sehr flexibel ist“, sagt Susanne Glasmacher vom Robert Koch-Institut (RKI). Mehr als 600 durch die Grippe verursachte Todesfälle beim Menschen meldete ihre Behörde in der Saison 2016/2017. Nie ist das Immunsystem vollends darauf vorbereitet, in welcher Form das nächste Influenzavirus auftaucht. Und im Winter ist es besonders schwach.

Ohne ausreichend von der Körperabwehr angegriffen zu werden, docken die Viren dann an die Zellen der Lunge an, schleusen ihr Erbgut ein und lassen die fremde Zelle übernehmen, was sie selbst nicht können: sich tausendfach vermehren, bis die Zellen kaputt gehen. „Passiert das massenweise, kommt es zur Entzündung“, sagt Glasmacher. Mit Fieber und Husten setzt sich der Körper zur Wehr. Kinder und gesunde Erwachsene überstehen die Invasion meist unbeschadet, für Immungeschwächte und Ältere ist sie lebensgefährlich, denn der ausgelaugte Körper ist auch anfälliger für andere Krankheitserreger.

Neuer Virus-Subtyp entsteht schnell

Unabhängig vom Ausgang der Erkrankung hilft jeder Patient den Influenzavieren, sich weiterzuentwickeln. „Anders als bei Menschen und Tieren liegt ihr Erbgut in einer sehr simplen Form vor. Sie haben acht Segmente, die jeweils den Code für ein Protein enthalten“, sagt Glasmacher. Diese Struktur habe den Haken, dass die Viren kaum Reparaturmechanismen hätten, wenn bei der Kopie des Erbguts ein Fehler passiere. Doch was bei Menschen schwere Behinderungen bedeuten kann, sei für Erreger von Vorteil. „Kein Immunsystem kann solche Mutationen vorhersehen“, so Glasmacher. Die stetige Veränderung nennt sich Antigendrift.

Noch ausgefeilter ist der sogenannte Antigenshift. Eine wesentliche Rolle spielen dabei die beiden Proteine Hämagglutinin und Neuraminidase, kurz H und N. „Hämagglutinin hilft dem Virus dabei, sich an die Oberfläche der Wirtszellen anzudocken, die Neuraminidase sorgt dafür, dass sich die neu entstandenen Viren von der Zelle lösen können“, erklärt Glasmacher. Die Bausteine für diese beiden Proteine können die Winzlinge beliebig untereinander austauschen, wenn sich mehrere von ihnen in einer Wirtszelle tummeln, so die Biologin: „Wie zwei Menschen in einer Umkleide, die eine Mütze und eine Kappe austauschen.“ Statt eines neuen Outfits entsteht ein neuer Virus-Sub-Typ, auf den kein Wirt vorbereitet ist.

H1N1 kostete Millionen von Menschen das Leben

Bislang wurden 18 verschiedene H-Typen und 11 N-Typen beschrieben, die in verschiedenen Kombinationen eine zweifelhafte Berühmtheit erlangt haben. H1N1, besser bekannt als die Spanische Grippe, kostete in den Jahren 1918 bis 1920 über 25 Millionen Menschen das Leben. Die Asiatische Grippe H2N2 forderte 1957 weltweit Opfer. H5N1 und H7N9 sind beide unter dem Namen Vogelgrippe bekannt.

„Ob ein Virus eher Vögel oder Menschen befällt, hängt von der Form des Hämagglutinins ab“, sagt Glasmacher, „das ist wie ein Schlüssel-Schloss-Prinzip. H5 oder H7 etwa passt am besten an Tierzellen.“ Vogelgrippe gehe daher nicht ohne Weiteres auf Menschen über. „Bei extrem hoher Virusdosis, also sehr engem Kontakt, kann das trotzdem passieren. Das Virus überträgt sich dann aber wiederum kaum von Mensch zu Mensch“, sagt Thomas Mertens, ärztlicher Direktor der Virologie des Universitätsklinikums Ulm und neuer Vorsitzender der ständigen Impfkommission (Stiko). Es gebe aber Tiere, bei denen der Schlüssel vieler Viren passe, egal ob sie auf Mensch oder Vogel spezialisiert sind.

Schwein besonders gefährdet

Dazu zählt das Schwein. „Es hat beide Rezeptoren“, sagt Mertens. In ihren Zellen könne es bei Doppelinfektion zu den gefürchteten Kombinationen kommen: „Neue Influenzavarianten, die artübergreifend sowohl ein hohes Krankheitspotenzial haben als auch sehr ansteckend sind.“ Strikte Kontrollen und Seuchenprävention, wie etwa das Verbieten von Geflügelmärkten in Asien oder das vorsorgliche Schlachten von Geflügel, wenn ein Grippefall im Stall auftrete, könnten helfen, solche Szenarien zu verhindern.

Auch die Grippeimpfung gehört zu dieser Strategie. Sie soll nicht nur empfindliche Bevölkerungsgruppen schützen, sondern auch die rasche Ausbreitung der Keime behindern. „Aber die Wirksamkeit der Impfung ist sehr anfällig für Veränderungen der Viren“, sagt Mertens, „ihre Effektivität schwankt je nach Jahr zwischen 20 und 70 Prozent“. Seit einigen Jahren enthält sie Antigene der Typen H1N1, H3N2 und des Typs B. Jedes Jahr aufs Neue beobachtet die Weltgesundheitsorganisation, welche neuen Varianten dieser Typen zirkulieren und stellt darauf basierend einen Impfstoff zusammen. Doch ob bis zu dessen Auslieferung nicht längst neue Mutationen entstanden sind, lässt sich nicht vorhersehen.

Wie eine neue Impfung helfen soll

Im Rahmen des EU-geförderten Projekts „Univax“ arbeiten Forscher des Helmholtz Zentrums für Infektionsforschung gemeinsam mit Kollegen aus fünf anderen Ländern an einer Lösung für das Problem. „Statt der Viren selbst, soll bei der von uns entwickelten Impfung die RNA, also nur das Erbgut, injiziert werden“, sagt der an dem Projekt beteiligte Wissenschaftler Kai Schulze, „es ist viel kleiner und lässt sich einfacher in den Körper bringen.“ So könne RNA für verschiedenste Hämagglutininvariationen gespritzt werden, die dann – wie es auch das Virus tun würde – die menschliche Zelle nutze, um das Protein bauen zu lassen.

„Anders als das Virus, kann sich diese RNA aber nicht unkontrolliert vermehren“, sagt Schulze. Statt nur für eine H-Variante, könnte der Körper dann präventiv eine Immunreaktion auf viele verschiedene H-Typen aufbauen und sei für mehrere Jahre geschützt. Schulz: „Im Modell funktioniert das bereits, aber bis wir klinische Studien durchführen können, wird es wohl noch dauern.“