Berlin. Leere, Verzweifung oder Angst: Etwa 100.000 Mütter erkranken an Wochenbettdepressionen. Oft werden sie mit ihrem Kummer alleingelassen.

Das Paar hat alles genauestens geplant: Die Aufgaben sind verteilt, das Kinderzimmer eingerichtet, die Kita ausgesucht. Beide haben sich über die richtige Ernährung, Allergien, Impfungen informiert. Ihr Baby kommt zur Welt, ohne Komplikationen. Doch dann plötzlich läuft nichts mehr nach Plan: Der jungen Mutter geht es immer schlechter. Sie versucht es zu verbergen, täuscht Glücksgefühle vor, wo sie in Wahrheit nur Leere und Verzweiflung spürt.

Jedes Jahr erkranken in Deutschland etwa 100.000 Mütter im Zusammenhang mit der Entbindung an psychischen Störungen. Einige schildern ihre Geschichten auf der Internetseite des Vereins Schatten & Licht, einer bundesweiten Selbsthilfeorganisation für Betroffene psychischer Erkrankungen rund um die Schwangerschaft.

Sie schreiben von der Warterei auf „dieses überwältigende Muttergefühl“, das sich nicht einstellen will, schildern, wie sie „schon morgens um halb acht heulend auf der Couch“ sitzen, „den Tag als bedrohlichen Riesenberg“ vor sich, und wie sie sich schämen, „für meine grundlose Traurigkeit, wo ich doch glücklich sein müsste, für die fehlenden Gefühle“.

Babyblues ist noch keine psychische Störung

Mit dem Babyblues, der schnell wieder vorübergeht, haben sich die meisten Frauen während der Schwangerschaft auseinandergesetzt. Ungefähr 80 Prozent aller Mütter machen das sogenannte postpartale Stimmungstief durch: Für einige Tage fühlen sie sich erschöpft, weinerlich, haben Stimmungsschwankungen, sind ängstlich, leicht reizbar.

Ausgelöst werde dieser Zustand nicht nur durch hormonelle Veränderungen, sagt Dr. Wolf Lütje, Chefarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe des Ev. Amalie Sieveking-Krankenhauses in Hamburg und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe (DGPFG). „Auch die Wucht der Geburt, egal ob natürliche Geburt oder Kaiserschnitt, spielt eine Rolle.

Und die Erkenntnis: Das Leben tickt jetzt anders, da ist nun eine lebenslange Verantwortung.“ Der Babyblues sei daher auch nicht als psychische Störung zu betrachten, so Lütje, sondern als „ganz natürlicher Anpassungsprozess“.

Starke Schuldgefühle und innere Leere

10 bis 20 Prozent der Mütter jedoch haben nicht mit dem Babyblues, sondern mit einer ernst zu nehmenden Erkrankung zu kämpfen: Bei ihnen entwickelt sich in den Tagen und Wochen nach der Entbindung eine postpartale Depression (PPD), bei manchen auch eine postpartale Angst- oder Zwangsstörung. Die Symptome ähneln denen des Babyblues, gehen aber noch darüber hinaus.

„Eine Mutter, die unter postpartaler Depression leidet, verliert nach und nach den Kontakt zu ihrem Kind, sie zweifelt zutiefst an sich selbst und an ihrer Mutterrolle“, erklärt Lütje. Die Frauen fühlen sich innerlich leer, desinteressiert und entwickeln starke Schuldgefühle bis hin zu Suizidgedanken. Auch Kopfschmerzen, Schwindel oder Herzbeschwerden deuten auf die Erkrankung hin. Bei einer Angst- oder Zwangsstörung kommen Ängste oder Panikattacken sowie Zwangsgedanken hinzu.

TV-Sendung lieferte eine Erklärung

Als Sabine Surholt vor 24 Jahren ihr erstes Kind bekam, waren postpartale psychische Erkrankungen in Deutschland noch weitgehend unbekannt. Und so begann für die junge Mutter eine „Odyssee von Arzt zu Arzt“: Keiner habe einen Zusammenhang zwischen der Entbindung und ihren Symptomen hergestellt, erinnert sich Surholt. Sie erhielt zwar eine Therapie, doch erst eine Fernsehsendung, in der Experten aus dem Ausland über die PPD sprachen, lieferte ihr die lange gesuchte Erklärung.

Gemeinsam mit anderen Betroffenen gründete sie den Verein Schatten & Licht, der heute über psychische Probleme rund um die Geburt aufklärt und Betroffenen Kontakte zu Experten, lokalen Selbsthilfegruppen und Beraterinnen vermittelt. Zwar habe sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten viel getan, so Surholt, „doch die postpartale Depression ist nach wie vor ein Tabuthema“.

Zu wenig Informationen über die Krankheit

Gynäkologen, Psychiater und auch viele Hebammen seien mit der Krankheit kaum vertraut, vielerorts komme sie nicht einmal in den Geburtsvorbereitungskursen zur Sprache: „Dort wird auf alle möglichen Komplikationen hingewiesen – auch die Komplikation einer psychischen Erkrankung müsste Thema sein.“ Viele Frauen würden sich aus Unwissenheit keine professionelle Hilfe suchen – dabei lassen sich die postpartalen psychischen Erkrankungen heute erfolgreich behandeln.

Neben der PPD, der postpartalen Angst- und der postpartalen Zwangsstörung kann eine weitere Erkrankung im zeitlichen Zusammenhang mit der Entbindung auftreten: die postpartale Psychose. Trotz ihrer Seltenheit findet sie häufiger den Weg ins öffentliche Bewusstsein als die anderen Krankheitsbilder: in Form von traurigen Berichten über ausgesetzte oder getötete Babys. Fälle von postpartaler Psychose hat auch Wolf Lütje in den 30 Jahren seiner Tätigkeit nur zweimal erlebt, „beide allerdings hochdramatisch und unverkennbar“.

Früherkennung bei Risikopatientinnen möglich

Ob es sich nun um eine leichte oder eine schwere psychische Erkrankung handelt: Viel gewonnen wäre schon, da sind sich Wolf Lütje und Sabine Surholt einig, wenn alle Beteiligten genauer hinschauen würden und bei der Beratung und Untersuchung schwangerer Frauen Hilfsmittel wie den „Edinburgh-Postnatal-Depression-Score“ (EPDS) einsetzen würden. Denn neben einer besonders schweren, traumatischen Entbindung spielen bei der Entstehung der PPD oft frühere psychische Probleme oder bestimmte Charakterzüge eine Rolle: Ist eine Frau besonders perfektionistisch? Hat sie ein eng gefasstes, idealisiertes Mutterbild? Wie steht es mit der Angst vor Kontrollverlust? Diese Risikofaktoren könne man leicht abfragen, so Lütje, dennoch geschehe das bislang kaum.

Weil Schlafmangel und Erschöpfung eine labile psychische Lage noch verstärken, könnten bei den mutmaßlichen Risikopatientinnen präventiv Maßnahmen zur Entlastung getroffen werden, sagt Lütje. „Früherkennung und Prävention sind möglich und notwendig. Der Mutterpass müsste nur hinsichtlich psychosozialer Themen ausgerichtet und ergänzt werden.“ Das würde auf lange Sicht auch dabei helfen, das Bewusstsein für die Erkrankung zu schärfen und ein unnötiges Tabu endlich aufzulösen.