Essen. Jedes 500. Kind wird mit einer Lippenspalte geboren. Essen und sprechen fällt dann häufig schwer. Ein OP-Marathon ist programmiert.

Vielleicht hätten sie damit rechnen können: Dass ihre zweite Tochter mit einer Lippenspalte geboren werden könnte, war wahrscheinlicher als bei anderen Paaren – aber es musste nicht zwangsläufig so kommen. Frank Wandtke* war mit einer einseitigen Lippen-Kiefer-Gaumenspalte zur Welt gekommen, seine Frau Miriam ist gesund, ebenso die erste Tochter Anna. Und so rechneten die Wandtkes eben nicht damit, dass Leonie betroffen sein könnte. Erst bei der Geburt sahen sie die Spalte, die wie ein klaffender Schnitt Leonies Oberlippe teilte.

Mit einer Inzidenz von etwa 1 zu 500 Geburten gehören Lippen-Kiefer-Gaumenspalten zu den häufigsten angeborenen Fehlbildungen. Sie entstehen im ersten Drittel der Schwangerschaft – wie genau, darüber sind die Experten uneins: Man geht davon aus, dass die Gesichtshälften entweder von vornherein nicht richtig zusammenwachsen, oder sich zunächst normal entwickeln, dann aber wieder auseinanderdriften.

Immer mehrere Ursachen als Auslöser

Was auch immer schiefläuft, es bringt zahlreiche Varianten der Fehlbildung hervor: Manchmal ist, wie bei Leonie, nur eine Seite der Lippe betroffen, doch es gibt auch beidseitige Lippenspalten; manchmal zieht sich die Spalte bis hoch zum Naseneingang, manchmal endet sie kurz davor. Manchen Kindern fehlt ein Stück des Kieferknochens, andere haben einen offenen Gaumen. Und wieder andere leiden unter mehreren Spalten in Kombination.

„Keine Spalte gleicht der anderen“, sagt die Hattinger Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgin Dr. Jihan Mohasseb. Auch lässt sich keine einzelne Ursache als Auslöser identifizieren: Genetische Dispositionen und Umwelteinflüsse kommen zusammen.

Suche nach Arzt des Vertrauens

Klar ist jedoch: „Hat eine Mutter bereits ein Kind mit Spalte zur Welt gebracht, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Fehlbildung beim nächsten Kind auch auftritt, erhöht.“ Als Miriam Wandtke wieder schwanger wurde, ließ sie deshalb in der 21. Schwangerschaftswoche einen differenzierteren Ultraschall machen. So erfuhr das Paar bereits vor der Geburt der dritten Tochter, dass die Kleine „das volle Programm abbekommen“ hatte: eine beidseitige Lippen-Kiefer-Gaumenspalte.

Weil sie diesmal aber früh genug Bescheid wussten, konnten sich die Eltern nun auf die Suche nach dem Arzt ihres Vertrauens machen, der sie und das noch ungeborene Baby in den nächsten Jahren begleiten würde. Sie recherchierten im Internet, lasen alles über die Operationen, suchten den Austausch in Elternforen, und informierten sich bei verschiedenen Krankenhäusern und Ärzten.

Sie wollten zum Beispiel bei der Einleitung der Narkose und im Aufwachraum in der Nähe ihres Babys sein. Diesen Wunsch aber lehnten viele Kliniken schlichtweg ab. Bei Dr. Jihan Mohasseb fühlten sich Miriam und Frank Wandtke schließlich gut aufgehoben. Mit vier Monaten wurde Clara am Gaumen operiert, ihre Lippe wurde zunächst nur geheftet, und erst neun Monate später richtig verschlossen.

Über 200 Konzepte für die Behandlung

Dieser Ablauf sei keinesfalls zwingend, betont Jihan Mohasseb: „Es gibt über 200 unterschiedliche Konzepte für die Behandlung von Lippen-Kiefer-Gaumenspalten.“ Der größte Unterschied ergebe sich bei der Reihenfolge: Manche Ärzte operieren zuerst die Lippe, dann den Gaumen, andere beginnen mit dem Gaumenverschluss und operieren die Lippe später.

Die OP-Techniken seien weitgehend identisch – „und besser denn je: Die Ansprüche an die Medizin sind gewachsen, die Hilfsmittel und Apparaturen wurden stetig optimiert, die Techniken haben sich verfeinert“, so Mohasseb. „Früher galt: zumachen und gut, heute sucht die rekonstruktive Chirurgie immer das Optimum – was im Bereich der Lippe mittlerweile nahezu erreichbar ist.“ Aus diesen Gründen sind Lippen-Kiefer-Gaumenspalten trotz ihrer Häufigkeit im Alltag nur selten zu sehen – anders als in manchen Gegenden ärmerer Länder.

Auch bei früher OP muss oft nachgebessert werden

Doch auch eine frühe Operation bedeutet nicht, dass automatisch Normalität einkehrt. Je nach Krankheitsbild werden mehrere Operationen, durchaus auch noch im Erwachsenenalter, nötig. Während eine isolierte Lippenspalte vergleichsweise schnell und komplikationslos behandelt werden kann, sind bei Lücken in Kiefer und Gaumen mehrere operative Zwischenschritte sinnvoll.

Die Patienten brauchen zudem schon sehr früh zahnmedizinische und kieferorthopädische Behandlung. Außerdem muss vielfach nachgebessert werden – abhängig davon, wie Narbe und umliegendes Gewebe wachsen und wie sich die Muskulatur entwickelt. „Man kann vorher nie genau sagen, ob und wie viele Nach-Operationen durchgeführt werden müssen“, so Mohasseb.

Hör- und Sprachschwierigkeiten als Folge

Dabei ist das Aussehen nicht der einzige Grund dafür, Kindern ein solches Operationsprogramm zuzumuten – stigmatisierender noch als die sichtbare Fehlbildung seien die Einschränkungen, die durch sie entstehen, sagt Barbara Dreibholz. Als Vorsitzende der Selbsthilfevereinigung für Lippen-Gaumen-Fehlbildungen e. V. Wolfgang Rosenthal Gesellschaft (WRG) hat sie seit vielen Jahren mit Eltern und Betroffenen zu tun und weiß, wie sehr manche Kinder unter den Hör- und Sprachschwierigkeiten leiden, die ihre Gaumenspalte verursacht.

Denn bei einem offenen Gaumen kommt es zu Problemen bei der Abdichtung des Nasenraumes und der Belüftung des Innenohrs. Dadurch können manche Spaltkinder als Säuglinge nicht gestillt werden, weil sie den zum Saugen nötigen Unterdruck nicht erzeugen können. Als Kleinkinder können sie bestimmte Laute nicht bilden.

Kinder brauchen besondere Förderung

Trotz Operationen, Frühförderung und Logopädie bleibt die Spalte für manche Patienten daher lebenslang präsent, als deutlicher Sprachfehler oder nur als nasales Sprechen. Wichtig für die Sprachentwicklung sei in jedem Fall ein möglichst früher Verschluss des Weichgaumens, sagt Jihan Mohasseb. Außerdem müsse man den psychosozialen Aspekt der Fehlbildung berücksichtigen, und die Kinder entsprechend fördern und stärken.

Auch Clara hatte anfangs starke Probleme mit der Artikulation. „Mit drei Jahren konnte sie kaum sprechen“, erzählt ihre Mutter, „im Kindergarten verständigte sie sich mit Gebärden“. Heute ist Clara fünf, das Sprechen klappt ganz passabel, auch wenn die logopädische Behandlung noch eine Weile zu ihrem Leben gehören wird – ebenso wie die Besuche im Krankenhaus: Einige Operationen stehen noch an. „Aber sie ist geduldig und tapfer“, erzählt ihre Mutter stolz. Überhaupt kämen beide Töchter mit der Erkrankung sehr gut zurecht. Über das Selbstbewusstsein ihrer Mädchen könne sie einfach immer wieder nur staunen.

*Alle Namen geändert