Berlin. Dass Kinder sich ärgern und dabei laut werden, ist zunächst einmal normal. Erst regelmäßiges Schreien und Aggressionen sind bedenklich.

Der Tag hat mal wieder zu wenige Stunden, schnell müssen noch die Einkäufe erledigt werden. Das Kind hat keine Lust, ist quengelig. Und als ihm im Supermarkt dann auch noch die Kekse verwehrt werden, schreit es wie am Spieß.

Für die Eltern ist eine solche Situation unangenehm, vor allem, wenn das Geschrei noch mit einem Sitz- oder Liegestreik verbunden wird, aber sie wissen ja: Es hört wieder auf. Doch was, wenn ein Kind seinen Frust nicht nur auf diese Weise äußert? Was, wenn es um sich schlägt oder tritt? Was, wenn es im Kindergarten immer öfter mit Gewaltausbrüchen reagiert, sobald ihm etwas nicht passt?

Kinder wollen Grenzen austesten

Dass Kinder sich ärgern, streiten und dabei laut werden, ist zunächst einmal vollkommen normal. „Jeder Mensch, der in einem sozialen Kontext steht, testet dessen Grenzen aus – auch Kinder tun das“, sagt Prof. Michael Schulte-Markwort, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie des Zentrums für Psychosoziale Medizin am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) und Leiter der Abteilung für Psychosomatik des Altonaer Kinderkrankenhauses (AKK). Dabei geht es darum, die Regeln kennenzulernen und seine Einflussmöglichkeiten auszuprobieren – mit Bösartigkeit hat das nichts zu tun.

Auch ein Kleinkind, das im Affekt jemanden schlägt oder tritt, muss nicht zwangsläufig ein Gewaltproblem entwickeln. „Wichtig ist, dass es sich um Einzelaktionen handelt“, so Schulte-Markwort. Denn erst regelmäßige Aggressionen verbaler und körperlicher Natur, ständiges Schlagen, Schreien oder große Zerstörungswut sind bedenkliche Verhaltensweisen.

Jungen häufiger betroffen als Mädchen

In der Psychiatrie werden sie meist als „Störung des Sozialverhaltens“ eingeordnet. Etwa sieben bis acht Prozent der Kinder sind davon betroffen, Jungen wesentlich häufiger als Mädchen. Nach seiner Einschätzung sei diese Zahl in den vergangenen Jahren nicht gestiegen, sagt Schulte-Markwort, im Gegenteil: Heutzutage könne schneller und besser gegengesteuert werden, weil Jugendämter und andere öffentliche Stellen gut informiert seien.

Primär seien aggressive Verhaltensweisen „ein Produkt der Umwelt, weniger des Charakters“, sagt der Kinderpsychiater. So sind vor allem Kinder gefährdet, die in „schwierigen Verhältnissen“ aufwachsen, zu Hause selbst Gewalterfahrungen machen, harte Zurückweisungen erleben oder unter fehlender Akzeptanz und Zuneigung leiden. „Unter verwahrlosenden Bedingungen kann fast jedes Kind aggressiv werden“, sagt Schulte-Markwort.

Betroffene neigen zu heftigen Gefühlsausbrüchen

Gewaltverherrlichende Videospiele oder grausame Internetfilmchen könnten daran ihren Anteil haben, seien aber nie die einzige Erklärung für aggressives Verhalten.

In einem liebevollen Elternhaus würden Kinder in der Regel keine Aggressivität entwickeln, so der Experte. Tun sie es doch, steckt meist eine sogenannte „affektive Dysregulation“ dahinter: Betroffene neigen zu heftigen, auch aggressiven Gefühlsausbrüchen.

Betroffene Kinder leiden unter eigenem Kontrollverlust

Während Kinder mit einer Störung des Sozialverhaltens ihre Gewalt meist als legitime Reaktion auf das Verhalten anderer betrachten, erleben Kinder mit affektiver Dysregulation ihre Aggressionen als Kontrollverlust, unter dem sie leiden.

Erst 2013 wurde die affektive Dysregulation als eigenständiges Krankheitsbild in die internationale Klassifikation psychischer Störungen (DSM) aufgenommen; zwar gibt es Überschneidungen mit anderen psychischen Störungen, die Symptomatik im Ganzen ließ sich jedoch keinem definierten Krankheitsbild zuordnen.

Wenn Aggressionen chronisch werden

Schon Kinder im Kleinkindalter können durch übergriffiges Verhalten, etwa Kneifen oder Beißen, auffallen. Lässt sich das Ganze nicht als Affekthandlung einstufen, kommt es womöglich sogar immer wieder vor, dürfe man das nicht als „Phase“ abtun, so Schulte-Markwort: „Aggressive Verhaltensweisen haben die unangenehme Eigenschaft, schnell zu chronifizieren.“

Er appelliert an das „Expertentum der Eltern“: Wenn ihnen etwas merkwürdig erscheine oder sie entsprechende Rückmeldungen aus dem Kindergarten erhielten, sollten sie das ernst nehmen und reagieren. Denn nur wenige Kinder zeigen die Störung des Sozialverhaltens ausschließlich im familiären Rahmen, die meisten lassen ihren Aggressionen eher außerhalb der Familie freien Lauf.

Therapie mit zunehmendem Alter immer schwieriger

Während derartige Probleme bei Kleinkindern eher selten sind, können sie im Vorschulalter, bei Vier- oder Fünfjährigen, schon deutlicher in Erscheinung treten und manifestieren sich mit etwa acht bis zehn Jahren. „Etwas später sind sie oft bereits chronifiziert“, sagt Schulte-Markwort.

Da es sich um eine „stabile Verhaltensstörung“ handele, werde die Therapie mit zunehmendem Alter des Kindes immer schwieriger. „Im Jugendalter kommt bei vielen dann das Problem Delinquenz hinzu“ – die Tendenz zur Straffälligkeit.

Sanktionen sind der falsche Weg

Eltern sollten den Verhaltensauffälligkeiten allerdings nicht mit Sanktionen begegnen, sondern gemeinsam mit dem Kind nach Ursachen suchen. Umgekehrt sollten sie dem Kind bei alternativem Verhalten viel positiven Zuspruch geben. Bekommen sie allerdings die aggressiven Tendenzen nicht in den Griff, sollten sie schnell Hilfe suchen, etwa bei Erziehungsberatern, Kinder- und Jugendpsychiatern oder -psychotherapeuten.