Berlin. Schläge auf den Schädel oder ständige Gehirnerschütterungen können das Nervenleiden CTE auslösen. Nicht nur Footballer sind gefährdet.

Es war der Höhepunkt des US-Footballs. Anfang Februar standen sich im Super Bowl, im Finale der Profiliga NFL, die Denver Broncos und die Carolina Panthers gegenüber. Während auf dem Feld die Körper gegeneinanderkrachten, dachten die wenigsten an das Leid, das die Brutalität des Sports vielen Profispielern nach ihrer Karriere ein bitteres Leben beschert. Der Film „Erschütternde Wahrheit“, der heute in die Kinos kommt, thematisiert eine mysteriöse Krankheit: die Chronisch Traumatische Enzephalopathie, kurz CTE. Forscher haben in den vergangenen Jahren 50 Fälle dieser Gehirnerkrankung bei Profispielern aus Kontaktsportarten nach deren Tod nachweisen können. Neben Football- und Eishockey-Spielern finden sich darunter auch Wrestler und Boxer.

Was verbirgt sich hinter CTE?

Die Chronisch Traumatische Enzephalopathie ist eine degenerative Gehirnerkrankung, die häufig bei Menschen vorkommt, die mehrfach Gehirnerschütterungen erlitten oder Schläge gegen den Kopf bekommen haben. CTE kann zu „Gedächtnisverlust, Verwirrung, zunehmender Demenz, Depression, Aggressivität, Impulskontrollverlust, selbstmörderischem Verhalten, Persönlichkeitsveränderung, parkinsonähnlichen Zuckungen und Einschränkungen der Motorik“, führen, fassen Wissenschaftler der University of California (UCLA) zusammen. Hier lehrt Dr. Bennet Omalu, der die Krankheit im Jahr 2002 bei der Obduktion des ehemaligen Football-Spielers Mike Webster entdeckte. 2005 veröffentlichte er eine Studie im wissenschaftlichen Journal „Neurosurgery“, die erstmals nahelegte, dass CTE in der nordamerikanischen Football-Liga NFL ein größeres Problem sein könnte.

Seit wann ist CTE bekannt?

Lange Zeit war die Krankheit nur mit dem Box-Sport in Verbindung gebracht worden, schon seit den 20er-Jahren war sie bekannt unter dem Namen Dementia pugilistica oder Punch-Drunk-Syndrom. „CTE wurde erst viel später auch als Folge bei anderen Sportarten erkannt. Boxer bekommen permanent starke Schläge auf den Kopf und werden in der Folge meistens auch ohnmächtig“, erklärt Professor Richard Dodel, kommissarischer Leiter der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Marburg und Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN).

Bei Dementia pugilistica kommt es zu Demenz in Verbindung mit Parkinson, wie etwa bei Boxlegende Muhammad Ali. „Bei Footballspielern, aber auch etwa bei Fußballspielern kommt es zu leichteren chronischen Schlägen, auch wenn sie dabei nicht bewusstlos werden. Theoretisch könnte man CTE als mildere Form von Dementia pugilistica bezeichnen“, sagt Dodel. Medizinisch nachgewiesen sei das jedoch nicht.

Wie entsteht CTE?

„Wirklich gesicherte Erkenntnisse gibt es dazu kaum“, meint Dodel. Gleich ist allen bekannten Fällen, dass in den Gehirnen verstorbener NFL-Spieler Ablagerungen des sogenannten Tau-Proteins gefunden wurden. „Tau ist ein lebenswichtiges Strukturprotein, das in Nervenzellen lokalisiert ist und eine wichtige Rolle im Transport entlang der Nervenausläufer spielt. Auch im Gehirn kommt es vor“, erklärt Dodel. Doch üblicherweise befände es sich in höherer Konzentration nicht in der Gehirnflüssigkeit. Das passiere erst, „wenn Nerven kaputtgehen und das Tau dadurch freigesetzt wird“, so Dodel. Bei immer wiederkehrenden Gehirntraumata würden auch immer mehr Nerven Schaden nehmen, so könne es zu den Ablagerungen kommen. Ähnliches vermuten auch die Wissenschaftler des Bostoner CTE-Centers, das als eine von US-weit 26 Institutionen die Krankheit anhand von gespendeten Gehirnen ehemaliger NFL-Spieler erforscht. Als Trauma gilt laut den Wissenschaftlern eine Gehirnerschütterung mit deutlichen Symptomen wie verschwommener Sicht, Licht- und Lärmempfindlichkeit, Kopfschmerzen, Übelkeit, Gleichgewichtsproblemen, Müdigkeit oder Verwirrtheit. Aber auch symptomlose Schläge auf den Kopf können nach Ansicht der Bostoner Forscher traumatisch sein.

Wissenschaftler des Department of Neurosurgery der University of Rochester Medical Center veröffentlichten im Dezember 2014 Ergebnisse aus einer Tierversuchsreihe, bei denen Mäusen und Ratten vergleichbare Kopftraumata zugefügt wurden. Die Tiere zeigten die mit CTE in Verbindung gebrachten Verhaltensauffälligkeiten und in ihren Gehirnen fanden sich Tau-Ablagerungen – sie belegten den Zusammenhang damit erstmals konkret.

Wie wird die Krankheit diagnostiziert?

Ein Team um Dr. Jorge Barrio von der School of Medicine an der UCLA entwickelte erst 2015 ein Verfahren, um die spezifischen Muster von CTE sichtbar zu machen. Bei einer Positronen-Emissions-Tomografie, kurz PET, wird das Gehirn gescannt und die Tau-Ablagerungen mithilfe radioaktiv markierter Substanzen hervorgehoben. Bei bislang 14 Personen, die aus ehemaligen professionellen Football-Spielern ausgewählt wurden, konnten die Wissenschaftler die Ablagerungen nachweisen. Die nachgewiesenen Veränderungen unterschieden sich deutlich von Patienten mit Alzheimerkrankheit und gesunden Kontrollpersonen.

Zuvor wurde die Krankheit nur bei der Autopsie Verstorbener festgestellt. Erst unter dem Mikroskop entdeckten Omalu und sein Team große Ablagerungen des Tau-Proteins in Mike Websters Gehirn. Große bräunliche Flächen hatten sich im Frontallappen des Gehirns gebildet. „Dieser Teil steuert nicht nur die Motorik, sondern bestimmt auch Emotionen, Persönlichkeit und Sozialverhalten“, sagt Dodel.

Ist CTE für Gewaltausbrüche und Selbstmorde verantwortlich?

Vor seinem plötzlichen Tod mit 50 Jahren hatte der pensionierte Spieler Webster Jahre starker Stimmungsschwankungen erlebt, schleichend hatten seine „kognitiven und intellektuellen Fähigkeiten“ nachgelassen, wie Medien nach seinem Ableben berichteten. Ähnlich erging es den NFL-Spielern Terry Long , Tom McHale, Junior Seau, Jovan Belcher und Adrian Robinson, die sich alle zwischen den Jahren 2008 und 2015 umbrachten. Auch in ihren Gehirnen entdeckten Mediziner später das Tau-Protein. Doch Neurologe Dodel warnt davor, die häufige Straffälligkeit, Fälle von häuslicher Gewalt, Drogen- und Alkoholkonsum allein auf CTE zu schieben: „Die Veränderungen durch das Tau-Protein sind im Gehirn schon lange vor Ausbruch der Krankheit sichtbar, die meisten spüren die Folgen erst Jahre nach der Karriere.“ Sicher sei ein Zusammenhang nicht auszuschließen, aber viele der Spieler würden schon mit Mitte 30 aussortiert, auf ihnen laste ein großer Druck. „Plötzlich interessiert sich keiner mehr für sie, das hat auch psychische Folgen“, so Dodel.

Gibt es Heilmethoden?

„Wenn eine Nervenzelle im Gehirn tot ist, kann man sie nicht wiederherstellen“, sagt Neurologe Dodel. Eine Heilung von CTE ist also nach jetzigem Kenntnisstand nicht möglich. Sinnvoller seien präventive Maßnahmen. „Es gibt beispielsweise Faktoren, die ein erhöhtes Risiko bei der Entwicklung degenerativer Gehirnerkrankungen darstellen“, erklärt Dodel. In ein paar Jahren könne man auf Basis solcher Daten ein individuelles Risikoprofil etwa für Sportler erstellen und entsprechend vorgehen. „Die Forschung über CTE allgemein steht noch am Anfang“, so Dodel. Obwohl auch im Fußball ähnliche Probleme auftreten könnten, würde kein Sportverein in Studien zu Gehirntraumata investieren. „Die wollen davon nichts wissen, da geht es eher um schnelle Heilung von Knien und Füßen“, meint Dodel. Das sei kurzfristig gesehen wichtiger als der Kopf.