Nach dem Tod von Nationaltorwart Robert Enke gehen immer mehr Männer in Deutschland offensiv mit ihren Depressionen um.

Hannover. Irgendwann wusste Dietmar Kroll, 46, nicht mehr, wie es weitergehen soll. Er stand auf dem Bahnsteig in Köln und wartete auf den Zug, der ihn von seinem Arbeitsplatz zurück nach Hause zu seinen Eltern nach Hannover bringen sollte. Als der ICE in den Bahnhof einfuhr, hat Dietmar Kroll kurz überlegt, ob er vor den Zug springen oder in den Zug einsteigen soll.

Als Jens Friedrich, 44, am Boden lag, lief sein Körper, so sagt er, "nur noch auf einer Art Notprogramm". Er hatte kein Haus mehr, keine Familie mehr, keinen Job mehr und keine Freunde mehr. Er war innerhalb von sechs Monaten ganz unten angelangt. "Ich hatte in allen Bereichen meinen persönlichen Tsunami hinter mir", sagt er. Und dabei musste er seinem eigenen Sturzflug merkwürdig tatenlos zuschauen. Die letzte Ausfahrt für Dietmar Kroll und Jens Friedrich hieß Wahrendorff.

Michael Hettich, 41, ist ein ausgesprochen freundlicher Mann. Der Chefarzt sitzt in seinem hellen Arbeitszimmer im Klinikum Wahrendorff bei Hannover und erzählt, dass sich in Deutschland gerade etwas sehr Grundlegendes ändert. Bisher sei es nämlich so gewesen, dass Frauen viel eher über ihre Probleme gesprochen haben als Männer. Wenn die Seele in Not ist, hätten die Kerle ganz viele Strategien entwickelt, um nicht darüber reden zu müssen. "Sie ziehen sich zurück, oder sie setzen sich mit einer Flasche Wein vor den Fernseher. Und wenn man sie gefragt hat, was los sei und ob alles in Ordnung ist, sagten sie: 'Ja, alles gut. Lass mich einfach in Ruhe.'"

Dass das heute anders ist, hat sehr viel mit Robert Enke zu tun. Als der deutsche Nationaltorwart im Herbst 2009 Selbstmord begangen hatte, führte der mutige Umgang der Witwe mit der Krankheit ihres Mannes bei sehr vielen Menschen zu einem radikalen Umdenken. Depression war in einer Hundertprozentgesellschaft, die sich täglich Optimismus und Bestleistung vorschreibt, mit einem Mal kein Tabuthema mehr. Diese Krankheit im Kopf, so die im Grunde erlösende Botschaft, kann jeden treffen. Sogar die Nummer eins in ihrem Job. Sie ist kein Zeichen von Schwäche. Und wenn man darüber redet, kann das sehr hilfreich sein.

"Vielleicht hilft die Beschreibung meiner Symptome ja, um zu erkennen, dass die Schraube der Arbeitsbelastung in vielen Bereichen längst überdreht ist", sagt Jens Friedrich. "Wenn jemand sich das Bein bricht, verstehen das alle. Aber wenn etwas im Kopf kaputtgeht, hat dafür niemand Verständnis", sagt Dietmar Kroll. Das Problem müsse aus dem Schatten ans Licht. Und deswegen will er darüber reden.

"Es gibt eine eindeutige Entwicklung dahin, dass nun auch die Männer immer öfter Hilfe in Anspruch nehmen", sagt Michael Hettich. Diesem Umstand hat er Rechnung getragen und jetzt die bundesweit erste Tagesklinik nur für Männer eröffnet.

Jens Friedrich sitzt in einem Raum der Tagesklinik und hat die Beine übereinandergeschlagen. Er ist groß gewachsen und erzählt sehr ruhig über den Weg, der ihn hierhergeführt hat. Er hat nach dem Abitur fünf Semester Informatik studiert und sich dann selbstständig gemacht. Er war Geschäftsführer, hat Unternehmenssoftware verkauft und ist immer gerne zu seinen Kunden gefahren. Er hat geheiratet, ein Haus gekauft, ist Vater eines Sohnes geworden.

Er sagt, dass er schon immer die Veranlagung hatte, es allen recht machen zu wollen. Wenn er von früher erzählt, kann man sich sehr gut vorstellen, wie dieser agile Mann durch sein Leben gehetzt ist. 35.000 Euro Fixkosten im Jahr. Kunden, die stets bestens bedient werden wollten. Eine Familie, "die mich geistig und körperlich ausgesaugt hat". Kollegen, die täglich motiviert werden wollten.

Und immer ein bisschen zu wenig Zeit für alle. "Ich habe eigentlich gar nicht mehr nach links und rechts geguckt", sagt Jens Friedrich im Rückblick. "Gelebt oder etwas wahrgenommen habe ich in den letzten zehn Jahren nicht."

Irgendwann geriet sein Leben "aus dem Gleichgewicht". Wie sich das anfühlte? "Kennen Sie das Lied 'Unbewohnt' von Herbert Grönemeyer?", fragt er. "Beweg mich im aussichtslosen Raum, führe Selbstgespräche, hör mich kaum, bin mein Radio, schalt mich aus, im Spiegel nur ein Gesicht, stell mich zur Rede, antworte nicht, stummes Interview", heißt es im Text. Und weiter: "Ich würde mich gern verstehen, aber ich weiß nicht, wie das geht, der Grundriss ist weg. Oh, es tropft ins Herz, mein Kopf unmöbliert und hohl, ich fühl mich unbewohnt."

Treffender, sagt Jens Friedrich, könne er sein leeres Leben von damals nicht beschreiben. Irgendwann, erzählt er, habe er nur noch gegrübelt. Dann hat sich seine Frau von ihm getrennt. Als der Druck von allen Seiten immer größer wurde, hat er noch einen letzten dreitägigen Kundenbesuch in Zwickau gemacht und sich dann zu Hause verschanzt. "Ich hätte versuchen können, das Gerüst mit aller Macht aufrechtzuerhalten", sagt er. Aber er hatte die Kraft nicht mehr. Ist nicht mehr ans Telefon gegangen und nicht mehr an die Haustür. Hat die Briefe nicht mehr geöffnet. Fühlte sich wie betäubt. "Ich konnte keine Emotionen mehr zeigen, keine Freude, keine Trauer." Er hat die Zeit am Computer und vor dem Fernseher totgeschlagen.

Geredet hat er mit niemandem darüber. Ein halbes Jahr lang ging das so. "Man hasst sich, man kapiert sich nicht", sagt er. Man verschiebe Dinge auf den nächsten Tag und mache sie dann wieder nicht. "Ich konnte nicht einmal eine Rechnung über 5000 Euro schreiben, bin aber gleichzeitig mit meinen letzten 5-Cent-Stücken zu Aldi zum Einkaufen gegangen", sagt er. "Wenn Sie körperlich einen Schritt machen wollen, müssen Sie geistig in Vorleistung treten. Aber dazu war ich nicht mehr in der Lage."

Immer mehr Menschen in Deutschland können nicht mehr Schritt halten. 2009 meldeten sich fast doppelt so viele AOK-Mitglieder wegen seelischer Probleme krank wie zehn Jahre zuvor. "Vor zehn Jahren hieß es noch, Herr X ist auf Dienstreise, der ist erst in zehn Tagen wieder zu erreichen", sagt Jens Friedrich. "In der heutigen Arbeitswelt muss du in jeder Minute erreichbar sein." Die Weltgesundheitsorganisation sieht in beruflichem Stress "eine der größten Gefahren des 21. Jahrhunderts". Nach ihrer Schätzung werden Depressionen im Jahr 2030 weltweit die höchste Krankenlast durch verlorene Lebensjahre und verlorene Lebensqualität verursachen.

Rund vier Millionen Menschen in Deutschland leiden an einer behandlungsbedürftigen Depression, laut einer Umfrage der Deutschen Angestellten-Krankenkasse schlucken rund 800 000 Menschen regelmäßig Tabletten, um Stress und Ängste auszuhalten. Auch Jens Friedrich und Dietmar Kroll nehmen noch Medikamente zur Stabilisierung.

Als das Leben von Dietmar Kroll aus den Fugen geriet, hatte er das Gefühl, die Arbeitskollegen sausen im Zug an ihm vorbei. "Ich konnte einfach das Tempo nicht mehr mitgehen", sagt der gewichtige Mann, der heute wieder eine ruhige Lebensfreude ausstrahlt. "Streng dich an, Dietmar", hat der Chef gesagt. "Konzentrier dich auf deine Aufgaben", sagten die Kollegen im Finanzressort der Versicherung. Er aber bekam Schweißausbrüche und zittrige Hände und konnte irgendwann nicht einmal mehr Protokoll führen. "Dabei war das immer meine Stärke."

Auch Dietmar Kroll zog sich in sein Kämmerlein zurück. Sagte den Kollegen ab, die ihn am Wochenende mit auf die Piste nehmen wollten. Irgendwann hat keiner mehr angerufen. Und am Montag hat Dietmar Kroll Geschichten erfunden, wie toll sein Wochenende gewesen sei. Dabei hatte er mit Weinkrämpfen zu Hause gesessen. "Sie glauben gar nicht, wie kreativ man dabei sein kann, sich eine heile Welt aufzubauen." Das habe sich "wie im Kino" angefühlt. "Ich war gar nicht mehr in meinem Leben drin."

Er hatte den Zeitpunkt verpasst, an dem er hätte sagen müssen: Hier geht's nicht mehr weiter. "Ich dachte immer nur: Ich lass mich nicht unterkriegen." Wie schwer war es, sich einzugestehen, dass er Hilfe braucht? "So schwer, dass ich daran zerbrochen bin", sagt Dietmar Kroll. Bei Jens Friedrich war es ein Ex-Kollege, "der so lange an meine Tür geklopft hat, bis ich aufgemacht habe". Der ihn ins Auto gesetzt und in die Klinik gefahren hat.

Michael Hettich sagt, dass die Betroffenen bei einer Depression oder Angststörung gedanklich eingeengt sind. "Aus diesem Zustand des permanenten Grübelns und Sich-Sorgen-Machens kommen sie irgendwann einfach nicht mehr raus." Er sagt auch, dass 80 Prozent unserer Gedanken negativ seien und man diese nicht einfach "wegdenken" könne. Also gehe es darum, die Gedanken nicht zu unterdrücken, sondern sie zu entschärfen. Mit einfachen Techniken eine Distanz zu ihnen zu schaffen. "Ich bin nichts wert"? Aha, mein Verstand legt mal wieder diese DVD mit dem Gedanken eines Versagers ein. "Wenn man sich das klarmacht, schafft das Distanz", sagt Hettich. "Ich bin das Letzte"? Warum sich nicht vorstellen, wie sich dieser Gedanke mit der Stimme einer Comic-Figur anhört? Oder gesungen, auf die Melodie von "Happy Birthday".

Dietmar Kroll sagt, dass er anfangs die Behandlung in der Tagesklinik mit dem festen Stundenplan aus Gruppen- und Einzelgesprächen, Spaziergängen und Museumsbesuchen, Malen und Wahrnehmungsschulung abbrechen wollte. "Ich habe erst nach drei Wochen gemerkt, dass das gut für mich ist." Er habe "noch nie so tolle Menschen kennengelernt wie hier", wo es niemand schafft, "sechs Wochen eine Maske zu tragen".

Jens Friedrich sagt, mit am wichtigsten seien die Gespräche mit den anderen Patienten. "Da reichen ganz wenige Worte, um zu wissen, was der andere meint und wie er sich fühlt." Ob er geheilt sei? "Man geht hier nicht geheilt raus, sondern mit neuen Erkenntnissen", sagt er. "Was man daraus macht, liegt an einem selbst." Er ist froh darüber, dass er jetzt ein zweites Leben bekommen hat. Eines, in dem sich seine Werte kolossal verschoben haben. Wie bei vielen Menschen mit einem ähnlichen Krankheitsverlauf ist bei ihm die Erkenntnis gewachsen, dass nicht der reich ist, der viel hat. Sondern der, der mit wenig auskommt. Braucht kein Haus und kein Auto mehr. Und keine Aufregung über Schlaglöcher. "Glückliche Menschen brauchen keine geteerten Straßen", sagt er.

Er sagt auch, dass er in Amerika mit dem gleichen Schicksal auf der Straße gelandet wäre. Und dass es wichtig ist, zu erzählen, wie einem der Staat in Deutschland mit Ärzten und Krankenkassen, Schuldnerberatern und den Beratern im Jobcenter zur Seite steht, wenn man am Boden liegt.

Dietmar Kroll spricht davon, dass die Therapie harte Arbeit sei. Er habe jetzt einen Werkzeugkoffer bekommen, um die Welt neu zu entdecken. Die Pflanzen, die Farben, die Menschen. Er sagt, dass er sich auf jeden neuen Morgen freut. Und wenn ihm jemand komisch kommt, sagt er sich: "Mensch, hat der einen schlechten Tag." Manchmal, wenn er in der Tagesklinik aus dem Fenster schaut, fragt er sich augenzwinkernd, ob die Bekloppten jetzt eigentlich draußen oder drinnen sind.

Ist er geheilt? Dietmar Kroll benutzt das Bild von dem Fluss. "Der Therapeut sitzt im Boot, aber schwimmen müssen Sie schon selbst, um ans andere Ufer zu kommen." Und? Ist er angekommen? "Ja", sagt Dietmar Kroll, "ich bin drüben."